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Nahost-Krieg: Bedenkliche Staatsräson
Im Streit um den Nahost-Krieg sollte besser von Rechtsstaat und Völkerrecht die Rede sein
Von Staatsräson hört und liest man zur Zeit allenthalben. Der Begriff soll in Deutschland eine grundsätzliche Unterstützung für Israel ausdrücken. Gerade nach dem Mordterror der Hamas heißt es täglich, Deutschlands Haltung zu Israel sei »Staatsräson«. So gut die Absichten sein mögen – der Begriff scheint mir bedenklich. Auch wenn es denen nicht bewusst sein sollte, die sich auf die Staatsräson berufen: Damit ist eine Abkehr vom Grundgesetz verbunden. Dort ist von Grundrechten und Menschenwürde die Rede, nicht von einer »Staatsräson«.
Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, erinnerte vor einem halben Jahr daran, dass das Konzept der Staatsräson auf »vordemokratischen Gedanken« beruhe. Es gehe zurück auf die Schrift »Il principe« (Der Fürst) des Philosophen Niccolò Machiavelli. Demnach bedeute Staatsräson ursprünglich, dass ein Staat seine Interessen durchsetzen dürfe, »selbst wenn dies die Verletzung von Rechten einzelner Bürger beinhaltet oder den Bruch von Gesetzen, da das Staatswohl wichtiger ist als das Wohl des Einzelnen«, so Mendel. Der Staatsrechtler Helmut Rumpf formulierte es so: »In der liberalen und naturrechtlichen Denktradition steht die Idee der Staatsräson im Gegensatz zur Idee des Rechts und des Rechtsstaats, sind Staatsräson und Rechtsstaat feindliche politische Leitbegriffe.«
Begründet wird der Rechtsstaat ganz wesentlich im Grundgesetz. »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« – darauf könnten sich Politiker*innen und Medienmenschen berufen, wenn sie keine Zweifel daran aufkommen lassen wollen, dass sie für den Schutz der Menschen in Israel stehen. Damit wären sie nicht im Fahrwasser »vordemokratischer Gedanken« und könnten auch deutlich machen, dass sie nicht nur für Jüdinnen und Juden einstehen, sondern für alle Menschen in Israel, für Muslime, Christ*innen … Mehr noch: Das hätte ebenso zu gelten für die Palästinenser*innen in der Westbank und im Gazastreifen. Sogar für »Anhänger der Fatah-Bewegung und Homosexuelle in Palästina«, wie Meron Mendel aktuell daran erinnert, dass die »ersten Opfer der Hamas keine Israelis« waren.
Friedrich Siekmeier war Landesgeschäftsführer der Deutschen Journalisten-Union im Verdi-Landesbezirk Niedersachsen/Bremen und davor u.a. nd-Autor.
Wer auf das Grundgesetz zurückgreift, entgeht der Gefahr, dass über eine abstrakte Solidarität mit Israel auch radikal-religöse Gruppen in die »Staatsräson« eingeschlossen sein könnten. Deren Rechtsverständnis wandte sich gegen Gewaltenteilung sowie Menschenrechte und -würde für Palästinenser*innen. Die Berufung auf eine Staatsräson kann auf eine schiefe Ebene führen, weg von unserem Rechtssystem. Beispielhaft sei die Jugend des DGB zitiert: »Wir begrüßen die Feststellung der Bundesregierung, dass Israel jedes Recht hat, sich gegen den Terror zu verteidigen«, heißt es dort. Jedes Recht? Eben auch das Recht, das sich rechtsextreme Israelis vorstellen?
Eine ganz andere Haltung zeigen über 100 hiesige jüdische Künstler*innen und Wissenschaftler*innen in einem Offenen Brief: »Was uns Angst macht, ist die in Deutschland vorherrschende Atmosphäre von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die Hand in Hand mit einem zwanghaften und paternalistischen Philo-Semitismus geht.« Die Briefschreiber*innen fordern keine »Staatsräson« ein. Sie zeigen auf, wo in Deutschland Menschenwürde und Grundrechte missachtet werden. Und: »Wir lehnen insbesondere die Gleichsetzung von Antisemitismus und jeglicher Kritik am Staat Israel ab.« Das scheint zumindest in Teilen der Politik angekommen zu sein: In vielen Stellungnahmen wird das Recht Israels auf Selbstverteidigung wiederholt. Aber – um jenes Wort zu nennen, das rechtsblinde Unterstützer*innen zum Unaussprechlichen erklärt haben – inzwischen häufig mit der Aufforderung verbunden, sich wenigstens an das humanitäre Völkerrecht zu halten.
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