Armutskreislauf bei der Tuberkulose

WHO: Unterbrechung von Gesundheitsdiensten hat den Kampf gegen TB um Jahre zurückgeworfen

Aktivistinnen der indonesischen Kampagne für TB-Eliminierung fordern mehr Anstrengungen im Kampf gegen die Krankheit.
Aktivistinnen der indonesischen Kampagne für TB-Eliminierung fordern mehr Anstrengungen im Kampf gegen die Krankheit.

Tuberkulose (TB) bis zum Jahr 2035 zu beenden, hat sich die Weltgemeinschaft auf die Fahnen geschrieben. Die Realität ist eine andere: 7,5 Millionen Patienten wurden im vergangenen Jahr weltweit neu diagnostiziert, wie aus dem »Welttuberkulosebericht 2023« hervorgeht, den die UN-Gesundheitsorganisation WHO am Dienstag in Genf vorgestellt hat. Dies ist die höchste Zahl seit Beginn der globalen TB-Überwachung durch die WHO im Jahr 1995. Der aktuelle Bericht, in dem Daten aus 192 Ländern und Gebieten ausgewertet wurden, schätzt die Zahl der Todesfälle im Jahr 2022 auf 1,3 Millionen. Tuberkulose ist laut WHO nach wie vor die häufigste Todesursache von Menschen, die an der Immunschwächekrankheit Aids leiden.

TB wird durch Bakterien ausgelöst. Die Erreger befallen überwiegend die Lunge, können aber auch jedes andere Organ infizieren. Die Krankheit ist diagnostizierbar sowie behandelbar und bricht in vielen Fällen nicht oder nicht sofort aus. Dennoch ist die »offene Tuberkulose« seit Jahrzehnten noch vor Malaria und Aids die Infektionskrankheit, die weltmeist die meisten Todesfälle verursacht, nur vorübergehend unterbrochen in den Covid-19-Jahren.

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Die Corona-Pandemie hatte indes auch katastrophale Folgen für den Kampf gegen TB, nachdem zuvor zwei Jahrzehnte lang Inzidenzen und Todeszahlen rückläufig gewesen waren. »Die Unterbrechungen bei Behandlungen und Gesundheitsdiensten in den Pandemiejahren dürften zu fast einer halben Million zusätzlicher Todesfälle durch Tuberkulose geführt haben«, so die Autoren des WHO-Berichts. Dadurch, dass viele Infektionen in der Corona-Zeit nicht diagnostiziert und behandelt wurden, sei ein »beträchtlicher Rückstau« entstanden.

Im Kampf gegen Tuberkulose gingen dadurch wichtige Jahre verloren. Die 2015 gestartete »End-TB-Strategy« sieht vor, bis 2035 die Inzidenzen in den betroffenen Ländern um 90 Prozent und die Zahl der Todesfälle um 95 Prozent zu senken. Sie beinhaltet auch Zwischenziele auf diesem Weg. Wurden diese für das Jahr 2022 schon verfehlt, sieht es bei denen für 2025 richtig schlecht aus: Bei den Todesfällen gab es laut WHO-Bericht bisher lediglich einen Rückgang von 19 Prozent (Ziel: 75 Prozent), die Inzidenz sank um nur 8,7 Prozent (Ziel: 50 Prozent).

Trotz dieser deprimierenden Entwicklung sieht die WHO aber zumindest »einen ermutigenden Trend zur Umkehrung der nachteiligen Auswirkungen der Covid-19-Unterbrechungen auf die TB-Dienste«. Demnach hat sich der Ausbau der Diagnose- und -Behandlungskapazitäten im Jahr 2022 weltweit deutlich verbessert, besonders in Ländern wie Indien, Indonesien und den Philippinen. Darauf weisen die hohen, offiziell registrierten Fallzahlen eben auch hin. Wird TB frühzeitig erkannt und diagnostiziert, lässt es sich auch besser behandeln.

Insgesamt schätzt die WHO, dass die Kluft zwischen der geschätzten Zahl der an Tuberkulose erkrankten Menschen und der gemeldeten Zahl der Neuinfizierten von rund vier Millionen in den Jahren 2020 und 2021 auf jetzt 3,1 Millionen zurückgegangen ist. Das ist aber natürlich immer noch eine sehr große Dunkelziffer. Die UN-Organisation geht davon aus, dass im vergangenen Jahr 10,6 Millionen Menschen weltweit an Tuberkulose erkrankt sind.

Was für besonders große Aufmerksamkeit sorgt: »Multiresistente Tuberkulose bleibt eine Krise der öffentlichen Gesundheit«, sagte die Direktorin des WHO-Tuberkuloseprogramms, Tereza Kasaeva, bei der Vorstellung der Berichts. So erkrankten im Jahr 2022 schätzungsweise 410 000 Menschen an multiresistenter TB, von denen nur etwa 40 Prozent eine Behandlung erhielten. Da die Grundbehandlung immer noch mit Antibiotika geschieht, die in den 40er Jahren entwickelt wurden, häufen sich die Resistenzen, die schwer zu behandeln sind. In der Pharmaindustrie gibt es wenig Interesse an Innovationen, was auch für Impfstoffe gilt: Das einzige TB-Vakzin ist das Bacillus Calmette-Guérin (BCG), das sogar noch älter ist. Es hat besonders bei Kleinkindern viele Nebenwirkungen und ist mittelmäßig bei der Wirksamkeit.

Bei der Entwicklung neuer Tuberkulosediagnostika, Medikamente und Impfstoffe waren in den vergangenen Jahren zwar einige Fortschritte zu verzeichnen. Diese werden jedoch durch das Gesamtniveau der Investitionen in diesen Bereichen eingeschränkt, wie die WHO vorsichtig formuliert. Und so ist der Kampf gegen TB auch eine Finanzfrage: Für die Bereitstellung von Tuberkulose-Diagnose, -Behandlung und -Präventionsdiensten standen im Jahr 2022 insgesamt 5,8 Milliarden US-Dollar zur Verfügung, das von der Uno gesetzte Ziel lag jedoch bei 13 Milliarden US-Dollar pro Jahr.

Auf solche Gelder wären gerade arme Länder angewiesen, um kostenlose Gesundheitsdienste auszuweiten. Im Ergebnis trifft der Finanzmangel viele Menschen: Laut WHO-Bericht waren zuletzt etwa 50 Prozent der TB-Patienten und ihre Haushalte mit »katastrophalen Kosten« konfrontiert, einer Kombination aus hohen medizinischen Ausgaben und deutlichen Einkommensverlusten. Dies trage zu einem »Armutskreislauf« bei, der in vielen Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen und hoher TB-Belastung zu beobachten sei: Erkrankte werden arm, und umgekehrt haben die Armen ein erhöhtes Risiko, an Tuberkulose zu erkranken.

Auf der Pressekonferenz in Genf berichtete Handaa Enkh-Amgalan, eine TB-Überlebende aus der Mongolei, was dies für den Alltag bedeutet. »Meine Mutter und ich mussten eine schwierige Entscheidung treffen«, sagte sie. »Es ging darum, entweder Brot für die Nacht für mich und meine Geschwister zu bezahlen, oder in eine TB-Klinik zu gehen, um eine Röntgenaufnahme zur Diagnose machen zu lassen.«

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