Jeremy Corbyn in der Volksbühne: Kein linker Diskurs erwünscht

Ines Schwerdtner hält die Ausladung von Jeremy Corbyn aus der Berliner Volksbühne für falsch

  • Ines Schwerdtner
  • Lesedauer: 4 Min.

Über die Einladung zu der Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung »Europa den Räten« in der Volksbühne habe ich mich wie viele andere sehr gefreut. Gemeinsam soll ein »Europa von unten« begründet werden. Im Laufe der vergangenen Woche fiel dann auf, dass einer der Gäste, der ehemalige Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn, nicht mehr auf dem Programm zu finden war. Dieser Zeitung konnte man entnehmen, dass er aufgrund seiner pro-palästinensischen Haltung von der Volksbühne ausgeladen worden war. Eine Ausladung, die mich und viele weitere Konferenzteilnehmer überraschte und auch erschütterte.

Denn natürlich ist Corbyns Haltung im Nahost-Konflikt und sein Einsatz für eine Zwei-Staaten-Lösung hinlänglich bekannt. Dass der Horror vom 7. Oktober und die Gräueltaten der Hamas wie die Offensive im Gazastreifen in die Konferenzplanung gestoßen sind, ist Schicksal einer jeden linken Veranstaltung, die sich in den vergangenen Jahren immer wieder mit neuen Katastrophen und Kriegen außerplanmäßig auseinandersetzen musste. Das ist unsere Realität, vor der niemand die Augen verschließen kann.

Doch wir müssen in der Lage sein, auch kurzfristig ein Programm an die Vorgänge in der Welt anzupassen. Auch jahrzehntelang eingeübte Denkmuster müssen aufgebrochen und neu verhandelt werden, wenn die Situation es erfordert. So war es nach dem Angriff Russland auf die Ukraine, und so ist es heute nach der Zäsur vom 7. Oktober in Israel. Darüber nicht zu sprechen und sich selbst zu verhärten, die Geschichte und die Interessen in einem Krieg zu vergessen, lässt uns als gesellschaftliche Linke mit bloßem Moralismus zurück. Die Trauer und der Schmerz um jedes Opfer dürfen die Analyse und die politische Position nicht ersetzen.

Die zweite Lehre ist, dass zwischen privater und öffentlicher Veranstaltung zu unterscheiden ist. Eine solche Konferenz ist eben kein Geburtstag, von dem man missliebige Gäste einfach ausladen kann. Wer nach diesem Maßstab verfährt, betreibt eben jene Verhärtung und Nicht-Auseinandersetzung, die der Linken insgesamt schadet.

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Natürlich hat auch der öffentliche Diskurs seine Grenzen. Eine offen rechte Position sollte keine linke Bühne bekommen. Aber Corbyn vorzuhalten, er habe sich 2009 freundlich zur Hamas geäußert, ist kein Beleg dafür, ein Antisemit zu sein. Gerade die jahrelange Kampagne gegen ihn – in den britischen Medien und vom politischen Gegner – sollte uns aufhorchen lassen. Man kann ihn für diese frühere Einschätzung kritisieren oder auch begründet zu einer anderen Haltung kommen als er und andere aus der anglophonen Linken, die seit jeher härter sind in ihrer Verurteilung des israelischen Staates. Ihn und damit diese Position aber auszuschließen, bedeutet nur, den linken Pluralismus zu verengen. Ziehen wir die diskursive Grenze an der deutschen Sichtweise, verlieren wir jeglichen Kontakt zur europäischen Linken, die wir doch gerade von unten neu begründen wollen.

Das wäre womöglich die dritte Lehre aus diesem Debakel: Eine internationale Linke braucht einen öffentlichen Diskurs, der den jeweils nationalen oder regionalen Perspektiven Rechnung trägt. Anders ließe sich internationale Solidarität kaum aufbauen. Die europäische Linke ist derzeit zerrissen: Der Krieg in der Ukraine hat die nordische und osteuropäische Linke vor existenzielle Fragen gestellt, die wir nicht ignorieren können. Die belgische oder englische Linke, die eine blutige Kolonialgeschichte in sich tragen, positionieren sich anders zur israelischen Siedlungspolitik als die deutsche Linke vor dem Hintergrund des Holocaust. Eine europäische Konferenz muss dies zur Sprache bringen.

Ein souveräner und guter Umgang wäre also gewesen, der Realität Rechnung zu tragen und ein Format zu finden, in dem Corbyn und beispielsweise ein Gast aus der israelischen Linken diskutieren, empathisch und klug für ein deutsches Publikum moderiert. Eine kurzfristige Änderung des Programms wäre allemal besser – wenn auch anstrengender – gewesen als eine stillschweigende Ausladung.

Man kann den Nahost-Konflikt nicht von der Bühne der Weltgeschichte verbannen und so auch nicht von der Volksbühne. Damit sollten wir gar nicht erst beginnen.

Ines Schwerdtner war Chefredakteurin der deutschsprachigen Ausgabe des »Jacobin«-Magazins. Inzwischen ist sie in die Linke eingetreten und will bei der anstehenden Europa-Wahl kandidieren.

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