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  • Berlin
  • Tarifrunde der Länder

Sollen sie doch Wohngeld beantragen

Streikende der Bildungs- und Sozialarbeit fühlen sich nach der zweiten Verhandlungsrunde missachtet

  • Jule Meier
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist laut an diesem Donnerstagmorgen vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin. 3000 Streikende haben sich bereits um 8 Uhr früh zusammengefunden. Ihre Botschaft ist klar. »Der Akku ist leer! Wenn der Beruf jetzt nicht attraktiver wird, wird das Angebot von Kitas langfristig nicht möglich sein«, heißt es in einer Pressemitteilung der Gewerkschaft Verdi, die zum heutigen Warnstreik aufruft.

Leider fehlt die Adressatin der Botschaft: Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch wurde zur Übergabe einer kollektiven Gefährdungsanzeige mit 3016 Unterschriften geladen, sagte aber am Abend zuvor aufgrund ihrer Teilnahme an der Plenarsitzung des Abgeordnetenhauses ab.

»Wir haben die Gefährdungsanzeige in einer Backsteinform verpackt, um die Schwere der Situation zu verdeutlichen«, erklärt René Schneider, der in einer landeseigenen Kita arbeitet, »nd«. Wie viele andere der hier Streikenden mag Schneider seinen Beruf, kann diesem aber durch die prekären Arbeitsbedingungen nur noch schwer gerecht werden.

Es sind vor allem Beschäftigte aus den Kita-Eigenbetrieben, die an der heutigen Kundgebung und anschließenden Demonstration zum Brandenburger Tor im Rahmen der Tarifrunde der Länder teilnehmen. Aber auch Angestellte der Arbeiterwohlfahrt (Awo) aus Kitas und weiteren Einrichtungen streiken heute für einen neuen Haustarifvertrag. Beim bundesweiten Streiktag mit Schwerpunkt Berlin, Brandenburg und Hamburg sind neben Fahnen und Westen von Verdi auch solche der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) zu sehen.

Sabine Lehmann ist seit 40 Jahren Erzieherin. Sie hat schon viele Kolleg*innen kommen und gehen sehen, manche auch ins Burn-Out. Heute steht sie auf der Bühne und klagt: »Ich bewahre Kinder nicht wie Pakete auf.« Lehmann wünscht sich Pädagog*innen, die stolz auf ihren Beruf sind und denen es gut geht – aber die Realität sei davon weit entfernt. »Politiker wollen uns abspeisen. Aber welcher Politiker muss Wohngeld beantragen?«, ruft sie so laut ins Mikrofon, dass es bis durch die Fenster des Abgeordnetenhauses dringen könnte.

Das Anspielen auf den Wohngeldantrag zur Lösung der Kitakrise kommt nicht von ungefähr. Sabine Lehmann bezieht sich auf Hamburgs Finanzsenator Andreas Dressel (CDU), der Verhandlungsführer in der aktuellen Tarifrunde für den öffentlichen Dienst der Länder ist. Wenn das Einkommen der Beschäftigten nicht reiche, könnten sie Wohngeld beantragen, hatte er gesagt. »Schämt euch«, ruft Sabine Lehmann ins Mikrofon. Ihre Mitstreiter*innen lassen die Trillerpfeifen läuten.

Sie wollen keinen Applaus, sondern gleiche Löhne für gleiche Arbeit und einen angemessenen Personalschlüssel. Dafür sind sie gut organisiert: Bereits vor zwei Wochen wurde Katharina Günther-Wünsch über die Übergabe der Überlastungsanzeige informiert. Gestern Abend habe sie dann abgesagt. Stattdessen kamen Marianne Burkert-Eulitz, Abgeordnete aus Friedrichshain-Kreuzberg und familienpolitische Sprecherin für die Grünen, und Roman Simon, Abgeordneter für Tempelhof-Schöneberg für die CDU, kurz vorbei – mit Betonung auf kurz.

Kalle Kunkel, Pressesprecher für Verdi Berlin-Brandenburg, findet die Ignoranz der Politik für die Anliegen der Streikenden grotesk. »Wir haben großes Verständnis, dass eine Gedenkveranstaltung anlässlich der Pogrome vom 9. November heute stattfindet«, sagt er »nd«. Trotzdem hält er Katharina Günther-Wünschs Grund für die Absage vorgeschoben.

Überhaupt, wie konnte die Politikerin, die ab neun Uhr in der Veranstaltung des Abgeordnetenhauses saß, an den bereits ab acht Uhr vor der Haustür Streikenden vorbeikommen? Und warum hat sie es nicht wenigstens für ein paar Minuten hinaus geschafft?

»Zynisch« nennt Kunkel es, dass Politiker wie Falko Liecke, Staatssekretär für Jugend und Familie (CDU), die heutige Aktion als »reine Symbolpolitik« bezeichnen. Mieten in der Stadt explodierten und machten es für Beschäftigte wie die heute hier Streikenden kaum möglich, sie mit dem Lohn zu bezahlen. »Was der Senat tut, ist Symbolpolitik«, sagt Kunkel.

Auch Chiara, eine studentische Beschäftigte, unterstützt den Protest. Sie ist Mitglied der GEW und der Sozialistischen Organisation Solidarität (Sol). Für sie ist klar, dass der gewerkschaftliche Organisierungsgrad steigen muss und dass die verschiedenen Streiks des öffentlichen Dienstes zusammengeführt werden müssen. »Es braucht den DGB, aber eben auch eine konsequente Durchsetzung und keine Sozialpartnerschaft«, sagt sie »nd«. Chiara engagiert sich in den Tarifverhandlungen der studentischen Beschäftigten, die für Montag einen Warnstreik angekündigt haben. Sie schließt einen Erzwingungsstreik zur Durchsetzung der Forderungen nicht aus.

Es sind Sozialarbeiter*innen, Pädagog*innen, Erzieher*innen und vorrangig Frauen, die an diesem Donnerstag streiken. Am Ende treten viele von ihnen einzeln auf die Bühne und verlesen Zeilen aus der kollektiven Gefährdungsanzeige: »Wir legen mit unserer Arbeit mit den Kindern das Fundament für eine offene und demokratische Gesellschaft.« Sie bilden, erziehen, betreuen und versorgen. »Wir können unseren Auftrag nicht mehr ordnungsgemäß ausführen.«

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