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Argentinien: Zwischen Wut und Angst
Seit 80 Jahren ist Argentinien politisch gespalten. Nun bedroht ein Rechtsextremer die Hegemonie des Peronismus
Die Präsidentschaftswahl in Argentinien an diesem Sonntag ist auch eine Entscheidung zwischen Wut und Angst. Millionen sind wütend auf die regierenden Peronist*innen, für die Wirtschaftsminister Sergio Massa (51) ins Rennen geht. Andere fürchten um die Errungenschaften von 40 Jahren Demokratie und eines Sozialstaates, der auch heftige Wirtschaftskrisen abmildert. Der ultraliberale Rechtsextremist Javier Milei (53) setzt auf einen Nachtwächterstaat und profitiert vor allem vom weit verbreiteten Frust über die Politiker-»Kaste«, wie er sie nennt.
143 Prozent Inflation
In jedem anderen Land wäre eine Regierung, die für eine Inflation von 143 Prozent verantwortlich ist, bei Wahlen chancenlos. Staatschef Alberto Fernández trat auch gar nicht erst an, ebenso wenig Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner. Beide gehören der peronistischen Gerechtigkeitspartei an, ihr Verhältnis ist zerrüttet. Superminister Sergio Massa, auch für Landwirtschaft und Produktion zuständig, ist buchstäblich das letzte Aufgebot.
Den ersten Wahlgang im Oktober entschied Massa mit 36,7 Prozent überraschend klar für sich. Milei mit seiner Partei »Die Freiheit kommt voran« kam auf 30 Prozent. Große Verliererin war die frühere Sicherheitsministerin Patricia Bullrich vom liberalkonservativen Bündnis »Gemeinsam für den Wandel«, das bereits von 2015 bis 2019 an der Regierung war.
Historisch gesehen hat Massa jedoch ein schlechtes Ergebnis eingefahren. Andererseits wurde in der bevölkerungsreichen Provinz Buenos Aires der peronistische Gouverneur Axel Kicillof dank der gespaltenen Opposition klar wiedergewählt, dort war die Mobilisierung der Basis besonders erfolgreich. Und in beiden Kammern des Bundesparlaments stellen die Peronist*innen wieder die jeweils größte Fraktion.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Was macht die Widerstandskraft der Peronisten aus?
Was macht die Langlebigkeit und Widerstandkraft dieser Bewegung aus? Als Begründer des argentinischen Wohlfahrtsstaates war der Militär und Mussolini-Bewunderer Juan Domingo Perón (1895-1974) eine der bekanntesten charismatischen Führungsfiguren Lateinamerikas. Von 1946 bis 1955 setzte er die Sozialreformen fort, durch die er sich zuvor als Arbeitsminister einen Namen gemacht hatte – auch um der Linken das Wasser abzugraben.
Hohe Weltmarktpreise für die Agrarexporte erleichterten es ihm, dem Staat eine zentrale Rolle in der Wirtschaftspolitik zu verschaffen. Telefongesellschaften, Eisenbahnen und Energiefirmen wurden verstaatlicht. Das Gesundheitswesen expandierte, die Löhne stiegen, Millionen Argentinier*innen wurden Mitglieder der Sozialversicherung. Große Teile der Arbeiterschaft liefen zu den straff organisierten staatsnahen Gewerkschaften über.
Evita wurde schon zu Lebzeiten zur Ikone
Peróns erste Frau Eva, die aus einfachen Verhältnissen zur schillernden und in der Oberschicht verhassten Präsidentengattin aufstieg, starb 33-jährig an Krebs. Schon zu Lebzeiten wurde Evita zur Ikone, ihr sozialpolitisches Engagement stellte die ideale Ergänzung zum Regierungsprogramm ihres Mannes dar. Das Frauenwahlrecht wurde 1947 eingeführt.
Auch wenn der Niedergang dieses ersten Peronismus schon um 1950 einsetzte: Im kollektiven Gedächtnis sind dies goldene Jahre für die breite Bevölkerung. Nach Jahren wirtschaftlicher und innenpolitischer Krisen wurde der zunehmend autoritär agierende Caudillo 1955 durch einen Staatsstreich gestürzt und ins Exil getrieben. Aus jener Zeit stammt auch der Begriff »Gorillas« für die Antiperonist*innen.
Peróns Rückkehr an die Macht im Jahr 1973, von den zuvor sieben Jahre lang regierenden Militärs hinausgezögert, war von Turbulenzen überschattet. Nach seinem Tod stürzte das Land ins Chaos, unter seiner zweiten Frau Isabel bekämpften rechtsextreme Todesschwadronen linksperonistische Guerilleros, Arbeiter*innen und Studierende. Es war der Auftakt des Staatsterrorismus, den das Militärregime von 1976 bis 1983 perfektionierte.
In den 40 Jahren Demokratie seither regierten Peronisten 28 Jahre lang. Der neoliberale Privatisierer Carlos Menem (1989-99) wird von sogar von Milei bewundert. Néstor Kirchner (2003-2007) und Cristina Fernández de Kirchner (2007-2015) waren hingegen wichtige Akteure des südamerikanischen Linksrucks jener Jahre.
Der Peronismus hat eine starke Linke verhindert
Diese Namen symbolisieren auch die ideologische Spannbreite der Bewegung. In vielen Provinzen Argentiniens gerieren sich peronistische Gouverneure wie feudale Alleinherrscher, auch die meisten Gewerkschaften sind seit den 1940er Jahren peronistisch. Vetternwirtschaft und Korruption sind keine Seltenheit, Volksnähe und ein unbedingter Wille zur Macht die Regel.
Bis heute hat der Peronismus eine starke Linke verhindert: Gerade einmal fünf der 257 Abgeordneten gehören trotzkistischen Kleinparteien an. Die Hausmacht der »starken Frau« Cristina Fernández’, nach Peróns Statthalter in den 1970ern Cámpora genannt, ist ein vertikaler Machtapparat und Sprungbrett für Posten im Staatsapparat. Linke Impulse gehen von dieser Gruppierung unter der Regie von Kirchner-Sohn Máximo nicht aus.
Der Zentrist Sergio Massa ist der Inbegriff eines wendigen, machtbewussten Politikers. Er begann als Liberaler und stieß unter Menem zu den Peronisten. Seine Amtszeit als Bürgermeister der wohlhabenden Stadt Tigre unterbrach er für ein Jahr, als ihn Cristina Fernández zum Kabinettschef ernannte. Bald kam es zum Bruch, 2015 trat er als »Unabhängiger« an und trug dadurch zum Sieg des rechten Mauricio Macri bei.
Vier Jahre später kokettierte Massa mit einer weiteren Präsidentschaftskandidatur, kehrte dann zu den Peronisten zurück, wurde Präsident des Abgeordnetenhauses und schließlich vor Monaten zum Kandidaten des Wahlbündnisses »Union für das Vaterland« erkoren. Er verteidigt den Sozialstaat, die Menschenrechte und eine multilaterale Außenpolitik, pflegt aber auch beste Beziehungen zu Unternehmern, zur Justiz und zur US-Botschaft.
Mittlerweile leben über 40 Prozent der Argentinier*innen in Armut, die Reallöhne sinken, die öffentliche Schuldenlast beläuft sich auf unvorstellbare 400 Milliarden Dollar, und der Internationale Währungsfonds zieht die Daumenschrauben an. In den letzten Monaten verteilte Minister Massa noch finanzielle Wohltaten, doch nach der Wahl wird auch er Haushaltskürzungen vornehmen.
Ihm gegenüber steht mit Javier Milei ein irrlichternder Senkrechtstarter. Der Bewunderer von Donald Trump und Brasiliens Jair Bolsonaro will staatliche Funktionen, etwa im Renten-, Bildungs- oder Gesundheitswesen, radikal zusammenstreichen und bezeichnet sich selbst als »Anarchokapitalisten«. Lange befürwortete er die Freigaben des Waffen- und Organhandels. Als Ausweg aus der Wirtschaftskrise möchte Milei den US-Dollar als Landeswährung einführen und »den Kirchnerismus vernichten«. Wohl noch gefährlicher ist seine Vize-Kandidatin Victoria Villarruel, eine Verteidigerin der letzten Militärdiktatur.
Auch wenn Massa das TV-Duell am vergangenen Sonntag klar gewann: Der Ausgang der Wahl bleibt ungewiss. Teile der liberalkonservativen Opposition, angeführt von Macri, haben sich nämlich mit Milei verbündet, der prompt seine Rhetorik mäßigte. Ihr gemeinsamer Nenner, der heute von der Hälfte der Bevölkerung geteilt wird: der Antiperonismus.
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