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Linke in Tempelhof-Schöneberg: Auf dem Weg zur Wagenknecht-Partei
In dem Berliner Bezirk verliert die Linkspartei prägende Mitglieder
Vor 13 Jahren trat Martin Rutsch noch in seiner alten Heimat Ostwestfalen in Die Linke ein und zog dann vor zehn Jahren zum Studium nach Berlin. Jetzt verlässt er zum 31. Dezember die Partei und auch die Linksfraktion im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Rutsch will sich der neuen Partei der Bundestagsabgeordneten Sahra Wagenknecht anschließen, deren Gründung im Januar erfolgen soll.
Obwohl formal bis Jahresende noch Mitglied, redet Rutsch schon so, als gehöre er nicht mehr dazu. Die innere Abkehr ist erfolgt. Trotzdem fällt ihm die Trennung nicht leicht. Es sei ein längerer Prozess gewesen, erzählt der 28-Jährige. Entschieden habe er sich zur Abkehr, als der Bundesvorstand am 10. Juni beschlossen habe: »Die Zukunft der Linken ist eine ohne Sahra Wagenknecht.« Da sei für ihn klar gewesen: »Ich habe hier keine Zukunft mehr.«
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Warum Rutsch mit seiner Ankündigung dann erst noch bis November zögerte und auch jetzt nicht sofort ausgetreten ist? Er wolle »keine verbrannte Erde hinterlassen« und einen geordneten Übergang ermöglichen, erklärt er. Zunächst einmal ist er nur als Bezirksvorsitzender abgetreten. Mit den Genossen vor Ort habe er ja zehn Jahre gut zusammengearbeitet und mit ihnen keinen Streit, versichert Rutsch.
Das trifft auch auf Christine Scherzinger zu, die ebenfalls Ende 2023 die Linksfraktion im Bezirk und die Linkspartei verlassen und sich der neuen Gruppierung von Wagenknecht anschließen will. »Dieser Schritt war für uns nicht einfach. Wir betonen, dass er nicht auf kommunalpolitischen oder persönlichen Differenzen beruht«, erklärt Scherzinger. »Für unseren Austritt sind übergeordnete politische Gründe entscheidend«, sagt sie – und Martin Rutsch sieht es genauso. Die Linke vertrete nicht mehr die Interessen des Großteils der Bevölkerung. Die neue Partei werde da eine Lücke füllen.
»Wir waren ein gutes Team und bedauern ihren Weggang sehr«, reagiert Fraktionschefin Elisabeth Wissel. »Kommunalpolitisch und persönlich gab es keine Differenzen zwischen uns«, bestätigt sie. »Daher ist es für mich und den Rest der Fraktion umso unverständlicher und auch enttäuschend, dass es so weit kommt.«
Völlig überraschend ist es aber nicht: Martin Rutsch arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Alexander King, der im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt und früher selbst Bezirksvorsitzender in Tempelhof-Schöneberg war. Seinen beabsichtigten Wechsel zur Wagenknecht-Partei hat King bereits Ende Oktober mitgeteilt. Auch das kam nicht aus heiterem Himmel. Dass er das machen würde, wenn Wagenknecht tatsächlich eine eigene Partei aufmacht, war schon sehr lange klar. Von den 22 Linken im Berliner Abgeordnetenhaus wusste man das allein bei King ganz sicher.
Verletzt hat ihn der Umgang der Partei mit der großen Friedenskundgebung mit Wagenknecht und der Publizistin Alice Schwarzer Ende Februar am Brandenburger Tor. King gehörte zum Organisationsteam. Dass andere Linke selbst keine große Friedensdemonstration zustande brachten, dann aber diese Kundgebung als Querfront mit Rechten diffamierten, habe ihn schockiert, gesteht er. »Aber der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war für mich die Reaktion auf den Ausgang der Landtagswahlen am 8. Oktober in Bayern und Hessen.« Anstatt die Ursachen der Niederlagen richtig zu analysieren, sei ein Ausschlussverfahren gegen Wagenknecht gekommen.
Die neue Partei werde Wähler gewinnen, die sich von der Linken nicht mehr angesprochen fühlten und im schlimmsten Fall sogar rechts wählten, erwartet King. Für Frieden und soziale Gerechtigkeit gebe es in der Bevölkerung Mehrheiten. »Ich finde es schlimm, dass Die Linke dieses Potenzial nicht mehr abrufen konnte.« Auch wenn die AfD stärker und stärker wurde – stimmungsmäßig gebe es gar keinen Rechtstrend. Die Gesellschaft sei im Gegenteil in den vergangenen Jahrzehnten toleranter geworden.
Wenn aus der Wagenknecht-Partei nichts wird, wäre der 54-Jährige politisch heimatlos. »Ich würde zu keiner anderen Partei gehen«, sagt er. Aber King glaubt fest an einen Erfolg des Projekts. Auch die Angst, AfD-Mitglieder könnten in Scharen in die Wagenknecht-Partei übertreten und deren Erscheinungsbild prägen, quält ihn nicht. Dies werde man durch ein langsames Wachstum zu verhindern wissen, damit keine Menschen aufgenommen werden, über deren Vorleben man nichts oder zu wenig wisse.
Der gesamte Bezirksverband Tempelhof-Schöneberg gilt in einer für Berlin untypischen Weise als sehr eng an Wagenknechts Positionen orientiert. Insofern muss man damit rechnen, dass noch zahlreiche der rund 300 Mitglieder in die neue Partei übertreten, sobald es sie gibt. King kennt viele, die das vorhaben. Er erwartet aber nicht, dass sich der Bezirksverband in Luft auflöst. Er glaubt, dass Die Linke insgesamt weiter bestehen werde. In urbanen Zentren und Universitätsstädten etwa traut er ihr gute Ergebnisse zu. »Es wird nur eine andere Linke sein als die, die wir kannten.«
Zuversichtlich zeigen sich die Landesvorsitzenden Franziska Brychy und Maximilian Schirmer. Sie freuen sich, »dass jetzt viele neue Genossinnen und Genossen zu uns kommen und auch in Tempelhof-Schöneberg in die Partei eintreten«. 6724 Mitglieder zählt der Landesverband Berlin. 135 Eintritte waren seit dem 19. Oktober zu verzeichnen, viel mehr als gewohnt. Im selben Zeitraum gab es 81 Austritte. Den Trend, dass die Eintritte die Austritte überwiegen, gibt es bundesweit. »Wir bleiben beieinander und konzentrieren uns auf unsere Aufgabe als soziale Opposition, da gibt es genug zu tun«, sagt Franziska Brychy. Sie bemerkt, dass sich in Tempelhof-Schöneberg langjährige Genossen wieder aktiver einbringen wollen. »Die kiezorientierte Arbeit im Bezirk geht weiter.« Die Linke organisiere zurzeit zum Beispiel Mieterversammlungen.
Nicht einmal die Zusammenarbeit mit SPD und Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung ist in Gefahr. Auch ohne Rutsch und Scherzinger verfügen die drei Fraktionen noch über eine Mehrheit für ihre Projekte.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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