Tiktok-Propaganda: Osama bin Laden ist plötzlich Freiheitskämpfer

Leo Fischer kann über junge Aktivisten, die im Nahost-Konflikt plötzlich Osama bin Laden als Freiheitskämpfer huldigen, nur den Kopf schütteln

Millionenfach wurde es schon weltweit angesehen: ein Video, in dem eine junge Aktivistin berichtet, im Zuge des Nahost-Krieges einen Brief Osama bin Ladens gelesen zu haben, der ihre Augen geöffnet und ihr Weltbild umgestürzt habe. Jenen »Letter to America« hatte bin Laden vor 20 Jahren geschrieben; der »Guardian«, der ihn veröffentlicht hatte, depubliziert ihn erst aufgrund des Videoerfolgs.

Besonders bin Ladens Ausführungen zu Palästina haben es der Aktivistin angetan. Demnach hätten »die Juden« kein historisches Recht auf ein eigenes Land, Israels Staatsgründung sei ein zu rächendes Unrecht; auch würden die Juden Wirtschaft und Medien kontrollieren. Die Generation, die 9/11 nicht selbst erlebt hat, dafür aber zehntausend Stunden Politpropangda auf Instagram und Tiktok, zeigt sich in den Video-Kommentaren begeistert: Bisher habe man bin Laden für einen Terroristen gehalten; dass er sich dergestalt zu Palästina äußere, zeige, dass das mediale Bild von ihm eine Lüge sei – es handele sich vielmehr um einen missverstandenen Freiheitskämpfer!

Man würde es gerne das traurige Ende einer Fehlentwicklung nennen, wenn nur ein Ende abzusehen wäre. Als finale Schwundstufe antiimperialistischer Theoriebildung waren es Hardt/Negri, die Anfang der Nullerjahre »Empire – Die neue Weltordnung« vorlegten – und die die virale Begeisterung über den Osama-Brief jetzt einholt. Vorbei die Analyse von Einflusssphären, Interessen und Wirtschaftszyklen: In »Empire« wurde Klassenkampf heruntergebrochen auf eine bunte, plurale, irgendwie ethnische und subalterne »Multitude«, die abstrakt unter dem gesichtslosen globalen »Imperium« leide und ebenso abstrakt »resistance« dagegen zu leisten habe. Marxistische Theorie geriet zu einem Star-Wars-Plot – was dem Erfolg des Buchs jedoch keinen Abbruch tat, im Gegenteil. Für die globalisierungskritische Bewegung war »Empire« quasi das Gründungsmanifest.

Leo Fischer

Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der aufgeregten Öffentlichkeit nützliche Vorschläge und entsorgt den liegen gelassenen Politikmüll. Alle Texte auf dasnd.de/vernunft.

In diesem Weltbild war jede irgendwie »ethnische« Nationalbewegung, als Vertreterin der »Multitude«, allein dadurch schon als »progressiv« geadelt, dass sie das »Empire« bekämpfte – mit welchen Mitteln und wozu, spielte keine Rolle. Da glauben Bewegungen wie beispielsweise »Queers for Palestine« virtuelle Multituden zu generieren, die an der mörderischen Homophobie der Hamas doch sofort scheitern müssten.

Im Zuge des Gaza-Kriegs ist es in diesen Kreisen zu einer wahren Explosion von Dummheit gekommen – die Plakate der von der Hamas Entführten werden als »faschistische Propaganda« abgerissen, eine Vorführung der Hamas-Filmaufnahmen ihrer eigenen Bluttaten in New York als »zionistische Lügen« gestört. Auch Greta Thunberg lässt den Klimagott einen guten Mann sein, denn natürlich ist gerade ein freies Palästina viel wichtiger als die Rettung des Planeten.

Allen gemein ist, dass über endlose Volten abstrakter Herrschaftskritik videovermittelte »theory« plötzlich auf die erbärmlichste Weise konkret geworden ist: Israel ist das Imperium, ist der Imperialismus, ist der Kapitalismus, das Böse schlechthin; alle Probleme der Welt müssen vor der Bekämpfung dieses Menschheitsfeinds weichen, alles ist erlaubt, keine Lüge zu grotesk, kein Bündnispartner zu bösartig. Da entdeckt man sogar Osama bin Laden als Alliierten. Warum nicht den Una-Bomber? Sie waren alle irgendwie gegen’s System. Was dann am US-Imperialismus überhaupt noch so schlimm sein soll, wenn man in den eigenen Reihen solch blutige Mitstreiter hat, wird nicht erklärt.

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