Kurschus-Rücktritt: Beben in der Evangelischen Kirche

Die EKD-Ratschefin soll von sexualisierten Übergriffen eines Mitarbeiters gewusst haben

Annette Kurschus hat überraschend schnell Konsequenzen aus gegen ihre Person gerichteten Vorwürfen gezogen. Am Montag legte sie mit sofortiger Wirkung das Amt der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nieder, das sie seit 2021 innehatte. Auch von ihrem Amt als Vorsitzende (Präses) der Evangelischen Kirche von Westfalen, das sie bereits seit 2012 ausgeübt hatte, trat die Theologin zurück. Nach Angaben der EKD wird ihre Stellvertreterin Kirsten Fehrs das Amt kommissarisch übernehmen.

Der Grund sind Vorwürfe, Kurschus habe schon in den 90er Jahren erfahren, dass ein kirchlicher Mitarbeiter in ihrem Einflussbereich jungen Männern gegenüber sexuell übergriffig geworden sein soll. Sie war seinerzeit Gemeindepfarrerin im nordrhein-westfälischen Kirchenkreis Siegen. Zwei Männer aus ihrem damaligen Umfeld sagten einer Regionalzeitung kürzlich, sie hätten Kurschus seinerzeit auf einen Verdacht hingewiesen. Dies hatte die 60-Jährige vor einer Woche auf der Ulmer Tagung der Synode, des Selbstverwaltungsgremiums der EKD, scharf zurückgewiesen.

Zurzeit ermittelt die Staatsanwaltschaft Siegen gegen den ehemaligen Mitarbeiter in mehreren Verdachtsfällen. Der Mann ist inzwischen Rentner. Ob er sich seinerzeit strafbar gemacht hat, ist laut der Strafverfolgungsbehörde noch unklar. Bislang gebe es »keine Hinweise, dass es zu körperlicher Gewalt oder zu einer Drohung gegen Leib und Leben gegen eine Person« gekommen sei.

Anfang dieses Jahres war gegen den ehemaligen Kirchenmitarbeiter eine anonyme Anzeige eingereicht worden. Kurschus versicherte am Montag, sie habe erst dadurch Kenntnis von dem Tatverdacht gegen ihn erfahren. In einer vor Medienvertretern in Bielefeld vorgetragenen persönlichen Erklärung betonte sie: »In der Sache bin ich mit mir im Reinen.« Sie habe »zu jeder Zeit nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt«. Seit mehr als einer Woche werde aber »in der Öffentlichkeit ein Konflikt« zwischen ihr als Amtsträgerin und Betroffenen sexualisierter Gewalt geschürt. »Diesen Konflikt möchte ich schon deshalb auf keinen Fall austragen, weil das die Erfolge gefährden könnte, die wir in der Aufarbeitung und Bekämpfung sexualisierter Gewalt gemeinsam mit Betroffenen in vielen Jahren errungen haben«, so Kurschus.

Daher gebe es für sie in der herrschenden zugespitzten Situation, in der aus einem »rein lokalen« Vorgang ein »Fall von bundesweiter Bedeutung« geworden sei, »nur eine Konsequenz, um Schaden von meiner Kirche abzuwenden: Ich trete von beiden kirchlichen Leitungsämtern zurück.«

In Verdacht stehe ein Mann, mit dessen Familie sie lange befreundet gewesen sei, sagte die Theologin. Sie wünsche sich, sie wäre vor 25 Jahren bereits »so aufmerksam geschult und sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die mich heute alarmieren würden«, erklärte sie. Damals habe sie lediglich »die Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen«. Zugleich betonte Kurschus, sie habe zu dem Mann zu keinem Zeitpunkt in einem Dienstverhältnis gestanden.

Kurschus beklagte, ihr Bemühen darum, Persönlichkeitsrechte zu schützen, die auch beschuldigten Menschen und ihren Familien zustünden, werde nun als fehlende Transparenz und als »Versuch, meine eigene Haut zu retten oder mein kirchliches Amt zu schützen«, angegriffen. Das sei »umso bitterer«, als es ihr niemals darum gegangen sei, sich »aus der eigenen Verantwortung zu stehlen, wichtige Fakten zurückzuhalten, Sachverhalte zu vertuschen oder gar einen Beschuldigten zu decken«, sagte Kurschus.

Weil die Infragestellung ihrer Glaubwürdigkeit mittlerweile eine enorme Eigendynamik entfaltet habe, werde sie künftig nicht mehr so pointiert zu gesellschaftspolitischen und geistlichen Fragen Stellung nehmen können, wie es ihre Ämter verlangten. Mit ihrem Rücktritt wolle sie zudem verhindern, dass weiter »Aufmerksamkeit von den Betroffenen und von der Aufklärung des Unrechts, das ihnen angetan wurde«, abgezogen werde.

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Die Betroffenenvertreter im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt der EKD waren zuletzt auf Distanz zu Kurschus gegangen. Ihre Glaubwürdigkeit sei infrage gestellt, »eine klare, lückenlose und unabhängige Aufklärung« geboten, erklärte ein Sprecher. Kurschus sei als Ratsvorsitzende »nicht mehr tragbar«. Auch die Präses der Synode, Anna-Nicole Heinrich, war auf Distanz gegangen.

Wenn es um sexualisierte Gewalt gegenüber Schutzbefohlenen im kirchlichen Kontext geht, werden weltweit und auch in Deutschland vor allem die Verbrechen in katholischen Einrichtungen in Medienberichten thematisiert. Im Gegensatz zur Bundesrepublik haben andere Staaten bereits finanzielle Verantwortung für die Opfer übernommen, da diese oft als Kinder von staatlichen Behörden in kirchliche Heime eingewiesen wurden.

Nach Angaben der Bundesregierung wurden in Deutschland zwei Drittel der bislang bekanntgewordenen Taten in katholischen Einrichtungen begangen – aber ein Drittel geschah in evangelischen. Die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs hatte 2018 auf einer Tagung der EKD-Synode die Notwendigkeit der Aufarbeitung betont. »Wir haben uns gegenüber Menschen, die sich uns anvertrauen, schuldig gemacht, auch als Institution«, räumte sie damals ein.

Eine große Studie zu sexualisierter Gewalt, wie sie die katholische Bischofskonferenz in Auftrag gegeben hatte, gibt es für den gesamten Bereich der evangelischen Kirche in Deutschland noch nicht. Nach Angaben der EKD wurden in ihrem Bereich und innerhalb der evangelischen Diakonie seit 1950 etwa 881 Fälle sexualisierter Gewalt aktenkundig. Bis 2019 wurden rund 700 Opfer ermittelt, die meisten waren demnach Heimkinder in diakonischen Einrichtungen.

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