Feuerpause im Gazastreifen soll verlängert werden

Benjamin Netanjahu will den Gazastreifen entmilitarisieren und die Menschen deradikalisieren

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Es sind Berichte der Freude, der Erleichterung, aber auch des wütenden Bangens, die den Gefangenenaustausch zwischen Israel, der Hamas und dem Islamischen Dschihad begleiten. Seit er am Freitagmorgen begann, zusammen mit einer Waffenruhe, herrscht vor allem Stillstand: Die gut eine Million Menschen, die innerhalb des Gazastreifens vor den israelischen Angriffen geflüchtet sind, harren in notdürftigen Flüchtlingslagern aus, von den Vereinten Nationen versorgt mit dem Notwendigsten. Und in Israel fragen sich die Angehörigen der Geiseln an jedem Tag aufs Neue, ob dies der Tag ist, an dem die Liebsten zurückkommen, und wie sie zurückkommen.

Die Hamas behauptet, sie behandele die Geiseln gut, sorge für deren Gesundheit. Die Berichte der medizinischen Einrichtungen, in denen die Freigelassenen abgeschirmt von der Öffentlichkeit behandelt werden, sprechen eine andere Sprache: Kinder und Jugendliche hätten bis zu 15 Prozent ihres Körpergewichts verloren. Von psychischer und physischer Gewaltanwendung ist die Rede. Auch Mitarbeiter des Roten Kreuzes, die einige der Geiseln zu sehen bekommen haben, bestätigen Hinweise auf teils extreme Gewalt.

Am Mittwochnachmittag sprachen die Hamas, Israel sowie die Regierungen Katars und Ägyptens über eine Verlängerung der Waffenruhe und des nervenraubenden Gefangenenaustauschs um vier weitere Tage. Beides würde damit am kommenden Montagmorgen enden. Ziel sei die Freilassung aller Geiseln, teilte das Außenministerium Katars mit.

Doch ob das zu schaffen ist, bezweifeln derzeit viele Diplomaten in der Region. Die Zeit rennt. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat mehrfach deutlich gemacht, dass der Krieg gegen die Hamas und den Islamischen Dschihad auf jeden Fall fortgesetzt werden soll. Beide Organisationen müssten zerstört, aber mindestens soweit geschwächt werden, dass von ihnen keine Bedrohung für Israel mehr ausgehe.

In einem Interview mit dem Springer-Verlag sagte er, seine Regierung strebe eine Entmilitarisierung des Gazastreifens und eine Deradikalisierung der Menschen dort an. Als Vorbild nannte er die Entnazifizierung in Deutschland nach 1945. Die Äußerung sorgte auch in seiner eigenen Partei, dem rechtskonservativen Likud, für Verwunderung. Die Abgeordnete Galit Distel Atbaryan warf die Frage auf, wie das möglich sein soll: »In Gaza gibt es Tunnel, Tausende Raketen, extrem viele Waffen. Wie will man das machen?« Ihr Fazit: »Ich glaube, Netanjahu erzählt allen nur noch, was sie hören wollen.«

Schon in den vergangenen Wochen hatte Netanjahu von einer längerfristigen Besatzung des Gazastreifen gesprochen, nur um dann von Oppositionsführer Benny Gantz und Verteidigungsminister Joaw Galant, die beide Teil des dreiköpfigen Kriegskabinetts sind, abmoderiert zu werden: Israel könne sich eine andauernde Besatzung schlicht nicht leisten; man könne keine Truppen in Städten stationieren, deren Bevölkerung sie dort nicht haben wolle.

Die Hamas scheint derweil die Waffenruhe dazu zu nutzen, um auf Zeit zu spielen. Denn die Erfahrung aus vorangegangenen Kriegen zeigt, dass der internationale Druck auf Israel steigt, je länger eine solche Waffenruhe andauert. Jene Hamas, deren Terroristen am 7. Oktober ein Massaker an gut 1200 Menschen in Israel verübten, präsentiert sich nun als Organisation, mit der man Deals schließen kann.

In der Weltöffentlichkeit verblasst die Erinnerung ans Massaker mit jedem Tag etwas mehr. In Israel werden die Menschen jedoch mit jedem Schritt des Gefangenenaustauschs erneut daran erinnert: Kinder werden freigelassen, deren Eltern von Terroristen ermordet wurden oder noch im Gazastreifen festgehalten werden. Auch ein Baby befindet sich immer noch im Gazastreifen.

Was international oft als Schritt zur Beendigung des Krieges gesehen wird, erzeugt bei vielen in Israel Wut: Umfragen zufolge ist die Zustimmung zu einem erneuten Aufflammen des Kriegs groß; auch die Forderung nach einer möglichst vollständigen Zerstörung der Hamas ist weit verbreitet.

Das ist eine Herausforderung für jene, die im Hintergrund bereits nach Möglichkeiten suchen, die Kämpfe tatsächlich dauerhaft zu beenden. Denn um das zu erreichen, müsste man einen Weg finden sicherzustellen, dass es keinen weiteren Angriff auf Israel durch die Hamas oder den Islamischen Dschihad geben wird. Nur: Dieser Weg ist auf der diplomatischen Landkarte noch nicht eingetragen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.