Aktivistin tritt in Die Linke ein: »Anarchie ist meine Utopie«

Eigentlich ist sie Anarchistin, Krankenschwester und Seenotretterin. Jetzt steigt Lea Reisner von null auf hundert in die Linkspartei ein

  • Interview: Lotte Laloire
  • Lesedauer: 7 Min.
Lea Reisner arbeitete von 2017 bis 2022 als Einsatzleiterin und Krankenschwester auf Seenotrettungs­schiffen und kandidiert nun für das EU-Parlament.
Lea Reisner arbeitete von 2017 bis 2022 als Einsatzleiterin und Krankenschwester auf Seenotrettungs­schiffen und kandidiert nun für das EU-Parlament.

Lea, du willst für Die Linke ins EU-Parlament ziehen. Warum das denn, du bist doch Anarchistin?

Es braucht jetzt einfach eine starke linke Partei. Klar, Anarchie ist meine Utopie. Wenn ich die Augen zumache und mir eine perfekte Gesellschaft vorstelle, dann leben wir da alle gleichberechtigt zusammen, ohne dass Menschen übereinander herrschen. Aber aktuell sind wir sehr, sehr weit weg von dieser Utopie, und in unserer Realität spielt der Parlamentarismus eben eine Rolle. Wir stehen an einem Wendepunkt, an dem ganz, ganz dringend etwas passieren muss. Der massive Rechtsruck in Europa macht mir Angst. Das ist einfach nur gruselig.

Was findest du besonders gruselig?

Die Migrationsdebatte: Leute aus allen Parteien – außer der Linken – sprechen gerade darüber, Menschenrechte abzuschaffen. Aber die Idee von Menschenrechten ist doch, dass sie für alle gelten – oder sie gelten gar nicht. Wenn man erst mal ein Recht abschafft, dann wird das nächste bald folgen. Einige Kommunen haben schon angekündigt, dass die geplante Bezahlkarte nicht nur für Geflüchtete, sondern auch für Bürgergeld-Berechtigte eingeführt werden könnte. Die müssten sich jetzt am stärksten gegen die Asylrechtsverschärfungen wenden, denn sie könnten die nächsten sein, die entrechtet werden. Danach kommen die, die im Niedriglohnsektor arbeiten, und so geht die Abwärtsspirale immer weiter, wenn wir jetzt nichts tun.

Interview

Lea Reisner wurde 1989 in Wiesbaden geboren, arbeitete von 2017 bis 2022 als Einsatzleiterin und Krankenschwester auf Seenotrettungs­schiffen von Sea-Watch und anderen. Sie ist Ko-Autorin des Buches »Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende«. Heute lebt sie in Berlin und arbeitet bei der NGO Reporter ohne Grenzen, wo früher auch unsere Autorin tätig war, weshalb die beiden per Du sind.

Und wie kamst du dann auf die Idee, dich für die EU-Wahl im Juni nächsten Jahres aufstellen zu lassen?

Als mal wieder irgendein Politiker einen komplett unqualifizierten Kommentar auf Instagram von sich gegeben hat, dachte ich mir: »Wenn solche Vollpfosten hier reden und politische Verantwortung tragen dürfen, dann kann ich das auch.« (lacht) Nach der Idee habe ich mir das aber noch lange und gründlich überlegt.

Gab es den einen Moment, in dem du dich entschieden hast?

Ja, als klar wurde, wer sich sonst noch aufstellen lässt. Das sind super Leute. Aber da hat mir wer mit Expertise zu Migration gefehlt. Außerdem haben alle anderen Hochschulabschlüsse und ich finde, Klassenkampf von oben funktioniert nur so mittel. Auch Menschen mit Armutserfahrung wie ich sollten politisch mitbestimmen. Gerade bei der Linkspartei.

Welche Gefühle haben neben den rationalen Argumenten deine Entscheidung geprägt?

Vor allem Verzweiflung über das Unverständnis, das gerade vorherrscht. Immer häufiger höre ich, selbst von Leuten, die ich für progressiv-links gehalten habe, Aussagen, die sich gegen Geflüchtete richten. Wenn ich dann ein bisschen kratze, was dahintersteckt, dann ist das nicht unbedingt Rassismus, sondern oft sind es ganz reale Sorgen wie eine Heizkostennachzahlung oder dass sie keine Wohnung finden. Ich sage den Leuten dann Dinge wie: »Wusstest du, dass Wohnungskonzerne 46 Prozent ihrer Gewinne an Aktionär*innen ausschütten, anstatt neue Wohnungen zu bauen? Vielleicht sollten wir lieber die ins Visier nehmen. Denn es sind nicht die Flüchtlinge, die hier in Berlin 30 Euro pro Quadratmeter Miete von euch verlangen.«

Wie willst du es schaffen, dass du nicht selbst irgendwann Asylrechtsverschärfungen rechtfertigst und deine Prinzipien verrätst wie viele von den Grünen und der SPD? Wieso sollte ausgerechnet dir der Marsch durch die Institutionen gelingen?

Weil ich wirklich von außen komme und weil ich keine Karriere in der Partei anstrebe. Ich werde mich nicht aus strategischen Gründen auf den Kopf stellen. Ich habe meine roten Linien für mich sehr klar. Ein Vorteil ist, dass ich umgeben bin von Menschen, die mich permanent checken, ich habe einen sehr politischen Freund*innenkreis. Mir ist bewusst, dass Parlamentarismus Kompromisse bedeutet. Das ist ganz klar. Und natürlich lässt sich übers Parlament keine anarchistische Utopie erreichen. Ich finde aber, dass man das Parlament nutzen sollte, damit die Bedingungen zumindest nicht noch schlimmer werden.

Ist dieser Pragmatismus ein Altersding?

Kann gut sein. Ich bin sogar schon seit 2019 Parteimitglied. Nur solange Wagenknecht noch dabei war, habe ich das nie öffentlich zugegeben, meine von Rassismus betroffenen Freund*innen wären ausgerastet. Ich hatte mit der Partei also eigentlich nichts zu tun. Vielleicht ist es größenwahnsinnig, aus dieser Position heraus direkt für ein EU-Mandat anzutreten, aber warum denn nicht! Im EU-Parlament könnte ich mich wirkungsvoll für sichere Flucht- und Einreisewege einsetzen.

Du hast jahrelang auf Schiffen der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer gearbeitet. Wenn man Menschen in letzter Sekunde vor dem Tod bewahrt, was ja eine absolute Extremsituation ist, fühlt sich danach nicht jedes andere Engagement, zum Beispiel in einer Partei, langweilig an?

Doch, das schon. Aber ich glaube, es gibt für alles die richtige Zeit. Und ich hatte gute Gründe, aufzuhören.

Welche waren das?

Zum einen ging es mir einfach nicht mehr gut. Ich hatte ein Burnout. Zum anderen glaube ich, dass es sowieso nie gut ist, Sachen zu lange zu machen. Ich wollte nicht die grantige Alte werden, die dauernd sagt: »Das haben wir schon immer so gemacht«, weil sie eigentlich keine Energie mehr hat, sich mit neuen Ideen auseinanderzusetzen. Als ich gemerkt habe, dass ich mich in diese Richtung entwickle, habe ich das Staffelholz lieber weitergegeben. Immerhin habe ich mit fünf Jahren länger durchgehalten als die meisten anderen.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Fünf Jahre dauert auch eine Legislaturperiode im EU-Parlament. Hast du bei der Seenotrettung Dinge gelernt, die dir im EU-Parlament helfen könnten?

Auf jeden Fall! Stell dir folgende Situation vor: Dein Schiff ist das einzige weit und breit, es gibt mehrere Notfälle. Wo fährst du dann hin, für welches Boot entscheidest du dich? Oder wenn, wie neuerdings in Italien, Rettungsschiffe gezwungen werden, nach einem Einsatz sofort zurück in den Hafen zu fahren, statt weitere Menschen aufzunehmen: Übergehe ich also das Seerecht, das verlangt, Menschen in Seenot zu retten, oder riskiere ich, dass mein Schiff beschlagnahmt wird? Ich weiß, was Dilemmata sind, kann Verantwortung übernehmen und unter Druck Entscheidungen treffen.

Wie schaffst du es, so gut mit Stress umzugehen, obwohl du an der Krankheit ADHS leidest?

Also erst mal ist ADHS keine Krankheit. Es ist eine Neurodivergenz, mein Gehirn funktioniert einfach anders. Bei mir heißt das, ich bin ziemlich kreativ und kann sehr schnell Verbindungen zwischen neuen Informationen herstellen. Es bedeutet aber auch, dass ich wahnsinnig chaotisch bin. Das zwingt mich dazu, mich krass zu strukturieren. Das habe ich erst lernen müssen. Ich habe Therapie gemacht und nehme Medikamente, die mir dabei helfen. Inzwischen ist mein Leben so stabil wie noch nie. Und das schätze ich sehr.

Würdest du ins EU-Parlament einziehen, wäre es damit wohl erst mal vorbei.

Das stimmt. Aber in meinem Leben war bis vor Kurzem immer viel Bewegung, ich bin oft umgezogen, nicht immer freiwillig, damit komme ich klar.

Worauf müsstest du verzichten?

Auf meine heimliche Lieblingsserie »The Real Housewives of Beverly Hills«. (lacht)

Und was wäre mit deinem Hund Rio?

Der würde mit mir einziehen, er liebt Bahnfahren, und mein Büro wäre ein hundefreundlicher Ort.

Hand aufs Herz: Du stehst auf Listenplatz9. Angesichts der aktuellen Umfragewerte ist es unwahrscheinlich, dass du wirklich ins EU-Parlament einziehen wirst. Was motiviert dich trotzdem, an Bord einer Partei zu gehen, die viele – auch nach Wagenknechts Absprung – für ein sinkendes Schiff halten?

Zurzeit rechne ich nicht damit, einzuziehen. Aber durch meine Kandidatur kann ich meine Stimme erheben und wichtigen Themen Gehör verschaffen. Allein das ist aktuell schon viel wert. Wenn es jetzt nicht klappt, dann vielleicht nächstes Mal. Die Linke braucht einfach neue Gesichter. Und beim Parteitag letzte Woche war ich wirklich überrascht, wie wohl ich mich dort gefühlt habe! Es macht mir Mut, dass jetzt so viele junge Leute neu reinkommen und gleichzeitig der Umgang zwischen den Generationen so toll ist: respektvoll, freundlich, zugewandt.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.