- Kultur
- Ezzes von Estis
Jüdisches Leben
Wie ist es so, das jüdische Leben in Deutschland?
Hin und wieder fragt man mich: »Was sagen Sie so zum jüdischen Leben in Deutschland? Wie ist es so, das jüdische Leben in Deutschland? Wo findet es statt, das jüdische Leben in Deutschland? Wie bewerten Sie es, das jüdische Leben in Deutschland? Wie viele gelbe Sterne würden sie dem jüdischen Leben in Deutschland geben?«
Da muss ich natürlich nachdenken. Und je länger ich nachdenke, desto weniger weiß ich, was jüdisches Leben eigentlich sein soll. Ja, führe ich denn selbst überhaupt ein jüdisches Leben? Wache ich morgens auf und denke mir: »Masl tov! Das wird wieder ein wunderschöner Tag werden in meinem jüdischen Leben!«
Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.
Ich weiß, was eine jüdische Nase ist; ich weiß, was eine jiddische Mame ist; ich weiß, was jüdische Zores sind und was jüdischer Zimmes. Ich weiß sogar, was ein jüdischer Poz ist und wie er sich von einem gojischer Schmok unterscheidet. Aber was beim Namen des Unaussprechlichen ist ein jüdisches Leben?
Wie mag er wohl aussehen, ein Tag in so einem jüdischen Leben? Zunächst ondulierst du dir vor dem Spiegel die Schläfenlocken, genüsslich an einem Stück Mazze herumnuckelnd; sodann trottest du in die Synagoge, wo du bis zum Abend unter den Chaverim Tacheles redest mit möglichst viel Chuzpe und Chochme; abends schaust du bei Rothschilds vorbei, um kurz die globale Wirtschaft zu kontrollieren, triffst dich dann mit den anderen von der zionistischen Weltregierung und lässt bei einem Glas Christenblut gemütlich den Tag ausklingen, bevor du vom Dach aus auf der Klarinette die Nacht herbeifiedelst? In dem Fall, muss ich gestehen, führe ich wohl kein jüdisches Leben.
Freilich, Hand aufs Herz, führen Sie denn ein deutsches Leben? Wie ist es so, das deutsche Leben in Deutschland? Wo findet es statt, das deutsche Leben in Deutschland? Wie bewerten Sie es, das deutsche Leben in Deutschland? Das deutsche Leben müsste hierzulande doch eigentlich ziemlich präsent sein, wenn mich nicht alles täuscht. Auch wenn Deutschland ein demografisches Problem hat oder sogar mehrere, denn die demografischen Probleme vermehren sich rasend, im Gegensatz zu den demografischen Zahlen. Das Hauptproblem der deutschen Demografie jedenfalls lautet: Täglich schütten die Deutschen mehr Kinder mit dem Bade aus, als sie in einem Jahr zeugen.
Und die jüdisch-deutsche Demografie hat auch ein paar Probleme, wenn nicht sogar Paradoxien. Zum Beispiel gibt es in Deutschland sehr viel mehr jüdische Freunde als Juden. Welcher Deutsche hat schon keinen jüdischen Freund? Und welcher sagt, schreibt, schreit nicht etwas über seinen jüdischen Freund? Bei so vielen jüdischen Freunden landauf, landab, überall und allenthalben müsste jeder Jude an die 10 000 deutsche Freunde haben. Damit hört die Paradoxie allerdings mitnichten auf, denn an dem einen Tag haben die Juden so viele deutsche Freunde, anderntags plötzlich kaum mehr als gar keine.
Vielleicht aber sind diese jüdischen Freunde in Wahrheit alle ein und derselbe jüdische Freund? Ein jüdischer Universalfreund sozusagen, ein Philanthrop, quasi der Almankumpel? Gern würde ich ihn einmal sehen, diesen jüdischen Allerweltsfreund, denn das muss ein ganz famoser Geselle sein: Was der nicht alles in Ordnung findet, was der nicht alles hinnimmt, was der nicht alles duldet! Wie vorbildlich er das Dritte Reich verarbeitet, wie fett er den Schlussstrich gezogen hat! Wie wenig er aufs Judentum und die Juden gibt und erst recht auf den Staat Israel!
Manchmal habe ich so meine Zweifel, ob dieser jüdische Freund überhaupt Jude ist. Allerdings lebt vielleicht gerade der jüdische Freund ein jüdisches Leben? Ich weiß es nicht, denn ich weiß noch immer nicht, was jüdisches Leben eigentlich ist. Ich will natürlich nicht sagen: »Es gibt kein jüdisches Leben im deutschen.« Es gibt einfach nicht so viel jüdisches Leben. Generell gibt es viel weniger jüdisches Leben als jüdisches Überleben. Und selbst davon gibt es nicht viel.
Wie ist also das jüdische Leben? Es ist vor allem dies: unwahrscheinlich.
Masl tov – Frohes Fest!
Jiddische Mame – jüdische Mutter
Zores – Sorgen, Ärger
Zimmes – süße Speise
Poz, Schmock – Schimpfwörter
Mazze – ungesäuertes Brot
Chaverim – Freunde
Chuzpe – Frechheit
Chochme – Witz
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.