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Studium der Schrift: Gelehrsamkeit

Über das Studium der Schrift und Tauchgänge ins Unendliche

Wie erholt man sich vom unermüdlichen Studium der Schrift? Durch gelegentliches Abtauchen
Wie erholt man sich vom unermüdlichen Studium der Schrift? Durch gelegentliches Abtauchen

Das Studium der Schrift steht bei uns Juden über allem. Zumindest, wenn wir gläubige Juden sind. Und außerdem, wenn wir Zeit dafür haben. Und wenn wir keine Zeit dafür haben, dann haben wir vielleicht Zeit für andere Themen. Wenn ich irgendwo ein Thema vorfinde, tauche ich sogleich ein. Und Themen findet man ja allenthalben.

Schon das Wort Thema ist selbst ein Thema: etwa dass es aus dem Griechischen stamme und dort von dem Verbum für »setzen« abgeleitet sei, also letzten Endes eine Setzung bedeute. Und wenn das Thema einmal gesetzt ist, tauche ich sogleich ein, und dann geht es nur noch in die Tiefe; dann lasse ich mich wie ein Lot sinken in die unergründeten Profunditäten der Thematik, dann folge ich all den labyrinthischen Kanälen, all den unterirdischen Verästelungen, all den verschlungenen Wurmgängen. Ich tauche nicht wieder auf, bevor alles erforscht ist. Ich bin der Cousteau der Episteme, und das Wissen ist ozeanisch. Man fragt mich oft: Welches ist eigentlich dein Gebiet? Was ist dein ureigenes Terrain? Aber darauf weiß ich keine Antwort: Jede Tiefe lockt mich.

Ezzes von Estis

Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.

Sagen wir, ich studiere die Kommentare zu den Fragmenten der Vorsokratiker; aber natürlich muss ich für ein gründliches Studium vorher das Griechische beherrschen, muss die endbetonten Imperative des starken Aorists verinnerlicht haben; wobei die bloße Sprachbeherrschung mitnichten hinreicht, sie ist nur Oberfläche – die Entwicklung der Sprache, die Etymologien der Wörter muss man kennen; allein: Für eine souveräne historische Betrachtung bedarf es der Vergleichssprachen, des Sanskrit, des Gotischen, des Hethitischen und einiger weiterer. Kehre ich dann zum Griechischen zurück, weiß ich, dass zu einem wirklichen Verständnis der Sprache mir das Wissen von den Realien fehlt, von der griechischen Architektur, Archäologie, Epigrafik, Numismatik.

Freilich, die Münzen der frühen römischen Kaiserzeit treffen bei mir auf größeres Interesse, und besonders die Forschungen des Andreas Alföldi, dieses einzigartigen Münzgelehrten, in dessen Biografie ich lese, dass er sich auch um ganz andere Disziplinen, etwa die Erforschung der Theriomorphie, verdient gemacht hat, und dies gewissermaßen sogar als Pionier, ohne auf würdige Vorläufer sich stützen zu können, außer vielleicht auf einige frühe Arbeiten des Immanuel Mersel, der zwar zunächst solide Materialsammlungen kompilieren konnte, dann jedoch, aus fortwährendem Räsonnement über die Mythogenese, geistiger Phantasterei anheimfiel und, animiert vom Erfolg Darwins, mit dem er zuvor noch persönlich in Briefwechsel gestanden hatte, die Evolution der Gottheiten aus den Konstellationen der jeweiligen astronomischen Nische herleiten wollte.

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Während ich auf diesem Wege vorstoße zur Lektüre der Neo-Lamarckisten, dringt penetranter Baulärm durch das Fenster; die aus meiner Beschwerde erwachsende Plauderei mit dem Vorarbeiter führt mich unmittelbar auf einige Fragen der angewandten Statik, aber als ich mir vor der Rückkehr an den Schreibtisch einen, so sagt das Etikett, Darjeeling bereite, keimt in mir eine Scham über meine mangelnde Vertrautheit mit der Systematik, Provenienz und Fermentationsart der Teesorten.

Das Wissen ist ozeanisch, und wir leben nur an der Oberfläche. Wer aber einmal hinabgetaucht ist in die Tiefe der Themen, der taucht nur schwer, der taucht nicht gern wieder auf, und immer von Neuem, an jeder Stelle und zu jeder Zeit, zieht es ihn hinab.

Alle übrige Zeit aber widmet man sich dem Studium der Schrift.

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