Erstflug vor 65 Jahren: Das DDR-Flugwesen, es entwickelte sich

Steiler Aufstieg, jäher Absturz: Am 4. Dezember 1958 hob ein in der DDR entwickeltes Passagierflugzeug ab. In Serie wurde es nie gebaut

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.
Großer Bahnhof mit Staatschef und begeisterten Werktätigen: Im März 1958 rollte der Prototyp der »152« erstmals aus der Halle, am 4. Dezember startete die Maschine zum Erstflug.
Großer Bahnhof mit Staatschef und begeisterten Werktätigen: Im März 1958 rollte der Prototyp der »152« erstmals aus der Halle, am 4. Dezember startete die Maschine zum Erstflug.

1968 erschien beim DDR-Verlag Amiga eine Schallplatte mit dem Titel »Lyrik, Jazz, Prosa«. Es handelte sich um den Mitschnitt einer Veranstaltung in Berlin, bei der drei Jahre zuvor unter anderem der Schauspieler Manfred Krug einen Text des sowjetischen Schriftstellers Michail Soschtschenko vortrug. »Die Kuh im Propeller« berichtet vom tragisch scheiternden Versuch des als Wächter einer Flugschule tätigen Grigori Kossonossow, die Bauern seines Heimatdorfs zu Spenden für den Bau eines Flugzeugs zu bewegen. Seine einleitenden Worte wurden zur geflügelten Wendung: »Das Flugwesen, es entwickelt sich.«

Das Flugwesen, es hatte sich auch in der DDR stürmisch entwickelt – bis zu einem Höhepunkt zehn Jahre vor Erscheinen der legendären Schallplatte. Am 4. Dezember 1958, einem Donnerstag, hob in Dresden-Klotzsche ein Passagierflugzeug von einer neu gebauten Startbahn ab. Konrad Eulitz war damals Schüler einer 8. Klasse. »Als die Triebwerke aufheulten, strömten wir alle ins Freie«, erinnert er sich. Auch viele andere Bewohner des Stadtteils im Norden der heutigen sächsischen Landeshauptstadt verfolgten den Flug mit einer Mischung aus Anspannung und Begeisterung. Die Maschine flog in der vergleichsweise geringen Höhe von 1000 Metern eine Runde über das Elbtal und landete nach 30 Minuten sicher. »Die Ergebnisse des Flugs waren sehr zufriedenstellend«, sagt Eulitz. Das sorgte, ergänzt Brigitte Otto, »für eine Euphorie sondersgleichen«.

65 Jahre später sitzen Eulitz und Otto, die in Dresden gemeinsam mit rund 50 Mitstreitern in einer »Interessengemeinschaft Luftfahrt« aktiv sind, in einer stillen Ecke im Terminal des Dresdner Flughafens und erinnern sich an ein Ereignis, das in der DDR mehr als nur Wirtschaftsgeschichte schreiben sollte: der Erstflug der »152«, des einzigen in dem Land entwickelten Passagierflugzeugs. Fotos an den Wänden der Abflughalle zeigen die Maschine. Auf einem ist in einer Werkhalle der Rumpf des ersten Exemplars zu sehen, neben Flugzeugen des sowjetischen Typs IL-14, die in Klotzsche in sogenannter Gestattungsproduktion gefertigt wurden. Ein anderes Bild zeigt das zumindest äußerlich fertige Flugzeug auf einem Rollfeld: der Rumpf gut 30 Meter lang und etwas stumpfnasig; die pfeilförmig angeordneten Flügel oben am Rumpf angesetzt, was an hochgezogene Schultern erinnert. Darunter hingen zwei Strahltriebwerke aus DDR-Produktion. Fotos aus anderer Perspektive zeigen auch das ungewöhnliche, mittig angeordnete hintere Fahrwerk der ersten Exemplare, was Stützräder erforderlich machte. »Die Konstruktion stammte noch aus dem Bomberbau«, sagt Eulitz, »später wurde das verändert.«

Konrad Eulitz und Brigitte Otto haben die Entstehung der Maschine aus nächster Nähe verfolgt. Er ist Sohn eines der deutschen Spezialisten, die schon in der NS-Zeit in der Flugzeugentwicklung tätig waren und nach Ende des Krieges in die Sowjetunion gebracht wurden, um ihre Expertise in deren Dienste zu stellen. In jenen Jahren entstanden unter Federführung des umtriebigen Ingenieurs Brunolf Baade erste Pläne für die »152«, die damals in Analogie zu Typenbezeichnungen der Junckers-Werke noch »15.2« hieß und später wegen ihres Chefkonstrukteurs auch als »B 152« bezeichnet wurde. Anfang der 1950er Jahre kam die Gruppe in die DDR und trieb die Entwicklung im neu gegründeten Volkseigenen Betrieb (VEB) Flugzeugwerke Dresden weiter. Dort sollte später ein eigenes Passagierflugzeug in Serie gebaut werden: für den Linienbetrieb der 1955 in der DDR gegründeten Deutsche Lufthansa GmbH, aber auch für den Export. Das »Einfliegen« der Maschinen hätte Brigitte Ottos Vater übernehmen sollen, der Pilot war.

Die DDR-Pläne, sagt Eulitz, waren äußerst ambitioniert. Der Flugzeugbau galt damals als Königsdisziplin des Ingenieurwesens: »Das war das Nonplusultra des Maschinenbaus.« Sie setzte ausgereifte Technologien und Fertigkeiten auch in anderen Industriezweigen voraus: Metall-Leichtbau, Triebwerksbau, Hydraulik. Riesige Metallteile mussten präzise bearbeitet, elektrotechnische Geräte von höchster Zuverlässigkeit hergestellt werden. Für die nach sozialistischen Prinzipien umorganisierte Wirtschaft des Landes, das noch unter Kriegsfolgen und Reparationen litt, waren Entwicklung und Bau eines eigenen zivilen Strahlflugzeugs ein hehres Ziel. Allerdings ging es für die SED-Führung um Generalsekretär Walter Ulbricht um weit mehr als eine »Selbstversorgung« mit Lufttransportfahrzeugen. Die »152« war ein politisches Symbol. Sie sollte, sagt Eulitz, beweisen, dass »das sozialistische Wirtschaftssystem überlegen ist«.

Um das Ziel zu erreichen, wurden weder Kosten noch Mühen gescheut. Für die Flugzeugfertigung wurden in Klotzsche, wo es zuvor nur einen Provinzflugplatz gab und ansonsten »Acker« gewesen sei, zwei gigantische Hallen errichtet, »damals die größten ihrer Art in Europa«, sagt Brigitte Otto. Aus einer davon entstand später das heutige Terminal des Dresdner Airports. Der Bau, merkt Otto an, wurde zu einer Zeit in Angriff genommen, als weite Teile der Dresdner Innenstadt noch in Trümmern lagen. Auch weitere Gebäude und Anlagen wurden in Windeseile errichtet. Allein in Dresden hätten die Flugzeugwerke rund 3000 Menschen beschäftigt; insgesamt habe die Branche mit Werken in Chemnitz und Pirna, Leipzig und Ludwigsfelde 30 000 Mitarbeiter gehabt. Die Investitionen in den Aufbau der Luftfahrtindustrie werden auf mehrere Milliarden Mark geschätzt.

1958 sah es kurzzeitig so aus, als könnten sich die enormen Anstrengungen auszahlen. Am 30. April, pünktlich zum »Kampf- und Feiertag« am 1. Mai und kurz vor dem V. Parteitag der SED, wurde ein zunächst nur äußerlich fertiger Prototyp im Beisein von Ulbricht und vor Tausenden Werktätigen aus der Halle gerollt. Sieben Monate später absolvierte die »152« ihren erfolgreichen Erstflug, der den Konstrukteuren und Technikern nützliche Erkenntnisse für die weitere Entwicklung lieferte. Am 4. März 1959 sollte es den nächsten Demonstrationsflug geben, pünktlich zu Beginn der Leipziger Messe, bei der man den sowjetischen Partei- und Staatschef Nikita Chruschtschow zu verbindlichen Zusagen über den Kauf einer größeren Zahl von Maschinen bewegen wollte. Zudem sollten Filmaufnahmen des zu dem Zweck sehr tief fliegenden Flugzeugs entstehen. Das dafür notwendige Manöver endete aber in einer Katastrophe. Die Maschine stürzte wenige Kilometer entfernt vom Dresdner Flughafen ab, ihre vierköpfige Besatzung kam ums Leben.

Eulitz hat auch diesen Flug verfolgt; er hat die Rauchsäule über dem Ort des Absturzes gesehen und zu Hause dessen Folgen gespürt: »Die Stimmung war katastrophal.« Zwar habe »noch niemand geglaubt, dass es das Ende war«, sagt er. Abstürze seien bei der Erprobung neuer Flugzeuge auch andernorts durchaus vorgekommen. Die Entwicklung des »152« wurde denn auch weitergetrieben. Weitere Prototypen entstanden, es gab weitere Probeflüge, bei denen Brigitte Ottos Vater als Pilot im Cockpit saß. Doch im Nachhinein wirkt der Absturz im Frühjahr 1959 wie der Anfang vom Ende.

Das wurde schließlich aus einem Bündel an Gründen verfügt. Es gab immer wieder technische Probleme, etwa mit den Anlagen zur Treibstoffversorgung. Die Entwicklung hinkte zudem immer weiter hinter den ursprünglichen Zeitplänen hinterher. Zudem hatte die internationale Konkurrenz in dieser Zeit Maschinen auf den Markt gebracht, die der einst visionären »152« technisch überlegen waren. Dazu zählte auch die im »Bruderland« UdSSR gebaute TU-104, die als zweites Strahlverkehrsflugzeug der Welt ab 1956 im regulären Linienverkehr eingesetzt wurde. Auf den 70-Sitzer aus Dresden wartete inzwischen niemand mehr. Exportpläne zerschlugen sich; als Abnehmer für die Maschinen kam nur noch die DDR-Fluggesellschaft in Betracht. Am 28. Februar 1961 zog das Politbüro der SED die Reißleine und beschloss das Aus für die zuvor mit immensen Investitionen aufgebaute Luftfahrtindustrie.

Die Branche verschwand nicht gänzlich. Aus den Flugzeugwerken in Dresden wurde eine Flugzeugwerft mit 2500 Beschäftigten. Konrad Eulitz, der nach der Schule eine Lehre als Flugzeugmechaniker absolviert und an der Hochschule für Flugzeugbau zu studieren begonnen hatte, die dann freilich abgewickelt wurde, arbeitete dort von 1967 bis 1984, unter anderem als Abteilungsleiter. In dem Betrieb wurden Jagd- und Transportflugzeuge sowie Hubschrauber der Nationalen Volksarmee (NVA) gewartet, zumeist Maschinen sowjetischer Produktion. Von dem selbst entwickelten Passagierflugzeug zeugte nichts mehr. Die insgesamt zwölf gefertigten Exemplare hätten die Beschäftigten von Hand zerstören müssen, sagt Brigitte Otto: »Da hatten gestandene Männer Tränen in den Augen.«

Gut sechs Jahrzehnte später steht die Pilotentochter in einem Seitenschiff des Dresdner Flughafen-Terminals dennoch im Rumpf einer »152«, einem aus Metallplatten genieteten Korpus, in dessen vorderem Teil die zur Stabilisierung dienenden Rippen freiliegen, während es hinten gemütlich zugeht: plüschige Sessel, Tischleuchten, Wandverleidung in Holzoptik. Es handle sich um den Rumpf der Maschine Nummer 11, der auf einem Militärflugplatz in der Lausitz überdauert und dort als Lager für Batterien gedient habe, sagt Eulitz: »Deren Säure kann dem Aluminium nichts anhaben.« Heute gehört das restaurierte Relikt zu den Beständen des Dresdner Verkehrsmuseums, steht aber aus Platzgründen am Flughafen. Dort ist es im Rahmen von Führungen zugänglich, von denen diese Woche anlässlich des 65. Jahrestages des Erstflugs täglich mindestens eine stattfindet, sagt Jana Franke, die am Flughafen Dresden für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Sie merkt jedoch an, dass sich für das historische Objekt überwiegend ältere Besucher interessierten: »Die Jüngeren haben keinen Bezug dazu.« Sie überlegt, ob sich das mit Brillen ändern könnte, die einen Flug mit der »152« in der virtuellen Realität nacherleben lassen. Freilich: Auch das wäre ein teures Unterfangen mit unklarem Nutzen.

Die »IG Luftfahrt Dresden« würdigt den Jahrestag auf andere Weise: mit einer Veranstaltung, die gemeinsam mit dem »Verein Deutscher Ingenieure« ausgerichtet wird und sich aktuellen Trends im Flugzeugbau widmet: »Wie sichern wir die Zukunft?« Eine solche hat die Branche in Dresden auch nach dem jähen Absturz immer gehabt. Aus der Flugzeugwerft ging nach dem Ende der DDR die Elbe Flugzeugwerke GmbH hervor, zu deren Hauptgeschäftsfeldern die Umrüstung von Airbus-Passagiermaschinen zu Fracht- und Tankflugzeugen gehört und die mehr als 1800 Menschen beschäftigt. Das Flugwesen, es entwickelt sich in Dresden noch immer. Auch der DDR-Tradition, sagt Brigitte Otto, habe sich das Unternehmen »peu à peu angenähert«. Auf dem Gelände der Elbe Flugzeugwerke wird an diesem Montag eine Erinnerungstafel für Brunolf Baade eingeweiht, den Chefkonstrukteur des DDR-Vorzeigeflugzeugs »152«, das so tragisch scheiterte wie Grigori Kossonossow beim Agitieren der Bauern.

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