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Wohnungskrise in Berlin: »Das Leben auf der Straße macht krank«
Immer mehr Obdachlosen fehlt es an gesundheitlicher Versorgung
Wer dieser Tage mit der U-Bahn unterwegs ist, sieht das Ausmaß der Verelendung von immer mehr Menschen in Berlin. Offene Wunden und faulende Beine sind kein seltener Anblick, aber auch weniger deutlich erkennbare Krankheitsbilder sind weit verbreitet. Da Wohnungs- und besonders Obdachlose oft nicht krankenversichert sind, wird ihnen ein regulärer Zugang zum Gesundheitssystem verwehrt. Was gebraucht wird, um dennoch ihr Recht auf medizinische Versorgung zu gewährleisten, diskutierten am Montag Akteure aus Gesundheitswesen und Obdachlosenhilfe im Gesundheitsausschuss des Abgeordnetenhauses.
»Das Leben auf der Straße macht krank«, sagt Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin. Gerade deshalb sei eine adäquate medizinische Versorgung Obdachloser so wichtig, das jetzige System biete dies aber nicht ausreichend. »Wohnungs- und Obdachlosigkeit sind ein evidenter Faktor für schwere und chronische Erkrankung«, so Bobbert. Zu bekämpfen sei dies am besten präventiv, also durch ausreichende Wohnraumversorgung, damit Menschen gar nicht erst auf der Straße landeten.
Dies sei besonders im Hinblick auf psychiatrische Erkrankungen wichtig: 75 Prozent der Obdachlosen haben laut Bobbert solche Probleme. In diesen Fällen dauere die Behandlung länger und müsse kontinuierlich sein, was eine stabile Wohnsituation unabdingbar mache. »Die auf der Straße lebenden Menschen werden deutlich jünger und die psychiatrischen Erkrankungen deutlich komplexer«, so Bobbert.
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Zurzeit gibt es in Berlin schätzungsweise 60 000 Wohnungslose und 7000 Obdachlose. Laut Bobbert ist keine Minderung in Sicht: »Wir machen alle die Erfahrung, dass es mehr wird, auch die Nachfrage nach Hilfsangeboten steigt.« Die Notunterkünfte der Kältehilfe melden bereits eine beinahe vollständige Auslastung.
Bobbert verweist auf die bestehenden Hilfseinrichtungen in Gesundheit, Pflege und Sozialarbeit, die bereits wichtige Arbeit leisten. Diese werden oft überhaupt erst durch Ehrenamt aufrechterhalten, bekämen aber nur sehr kurzfristige finanzielle Zusagen von Senat und Bezirk. Dort fordert Bobbert Verbesserung: »Für jeden Euro an ehrenamtliche Einrichtungen bekommt man mehr, deshalb müssen diese bewährten Strukturen nachhaltig abgesichert werden.«
Das möchte auch Bianca Rossa, Leiterin der Caritas-Krankenwohnung für Obdachlose in Berlin. Dort werden 20 Betten für Obdachlose ohne Krankenversicherung zur Verfügung gestellt, versorgt werden die Patienten von ehrenamtlichen Ärzt*innen und Pfleger*innen. Beim Start vor fünf Jahren sollten Krankheitsbilder wie Grippe behandelt werden. Nun gebe es vermehrt schwere Erkrankungen mit großen Wunden oder Amputationen, bei denen große OPs nötig seien, so Rossa. Durchschnittlich würden Patienten nach vier bis acht Wochen und alle in einem verbesserten Gesamtzustand entlassen. Bei der Hälfte könne ein »Drehtüreffekt« mit längerfristgen Programmen eingeschränkt werden.
Man wolle einen Ort zum Auskurieren von Krankheit bieten, langfristige Pflegefälle würden die Betten nur blockieren. Laut Rossa gibt es in diesem Bereich eine große Lücke in Berlin, aber auch ihr ambulantes Angebot ist zu klein: »Es gibt einen Rückstau, bei dem ein Patient seit Juli auf Unterbringung wartet.« Eigentlich seien 30 Betten nötig. Die zugesagten 1,1 Millionen Euro reichen laut Rossa wegen gestiegener Material- und Personalkosten nicht, um das Angebot aufrechtzuerhalten, 355 000 Euro seien zusätzlich nötig.
Probleme mit Zuwendungen hat man auch bei den Krankenhausbetreibern. Laut Marc Schreiner, Geschäftsführer der Berliner Krankenhausgesellschaft, müssen Menschen unabhängig von ihrem Versichertenstatus behandelt werden. Wenn keine Versicherung festgestellt werde, könne man beim Bezirk eine Kostenübernahme beantragen. Diese werde jedoch in 86 Prozent der Fälle ohne Prüfung abgelehnt, oft warte man bis zu ein Jahr auf Antwort und bei rund einem Drittel bleibe sie gänzlich aus. Besonders Tempelhof-Schöneberg und Mitte lehnen laut Schreiner viel ab, insgesamt führe dies zu finanziellen Ausfällen von mindestens zehn Millionen Euro im Jahr.
»Unser Nothelferanspruch geht nach einem Tag als Leistungsanspruch auf den Patienten über«, sagt Schreiner. Da dieser von Obdachlosen oft nicht geltend gemacht werde, kriegen die Krankenhäsuer, wenn überhaupt, nur die erste Nacht erstattet. Unabhängig von den auf Bundesebene geregelten Gesetzen wolle man eine Vereinbarung mit dem Senat über pauschale Erstattung von 60 bis 70 Prozent der Leistungen für Menschen ohne Versicherungsschutz treffen. Allerdings komme man zu nichts, »weil wir einem munteren Zuständigkeits-Pingpong der Gesundheits- und Sozialverwaltung zuschauen dürfen«, so Schreiner.
Gesundheitssenatorin Ina Czyborra (SPD) sieht die Zuständigkeiten dagegen klar verteilt, »aber die Zusammenarbeit funktioniert oft wegen Ressorucenmangel nicht«. Auch die von Bobbert geforderte Absicherung der Finanzierung sei mit dem derzeitigen Zuwendungsrecht und der Haushaltsordnung nicht möglich. Anträge müssten immer neu gestellt werden.
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