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Berliner Lehrkräfte kämpfen für uns alle
Heute und morgen streiken die Erzieher*innen. Warum gab es in letzter Zeit so viele Streiks?
Was ist in diesem Jahr mit den Berliner Lehrer*innen los? Heute und morgen sind Tausende von ihnen im Streik. Für meinen Freund Bob bedeutet das, dass seine Kinder zu Hause bleiben und auf ihre Bildschirme starren, während er versucht zu arbeiten. Kein gutes System, aber er kann sich keinen Babysitter für 20 Euro die Stunde leisten. Andere Familien haben die Großeltern in Beschlag genommen, aber das ist für viele Einwanderer keine Option.
Aus dem Bauch heraus weiß Bob, dass diese Streiks für eine gute Sache sind. Aber die Gewerkschaft hat nicht genug getan, um zu erklären, was sie will, schon gar nicht für diejenigen, die kein oder kaum Deutsch sprechen. Sie hat lediglich einen kurzen Brief in verschiedenen Sprachen als PDF zur Verfügung gestellt. Für alle linken Eltern da draußen gibt es hier also einen Führer durch die Buchstabensuppe der Gewerkschaftskämpfe in Deutschland.
Heute gingen Tausende von Lehrer*innen auf die Straße, um eine Lohnerhöhung zu fordern. Sie sind Teil eines riesigen Gewerkschaftsvertrags namens TV-L, der für 2,5 Millionen Beschäftigte der deutschen Bundesländer gilt. Alle zwei Jahre, mehr oder weniger, verhandeln beide Seiten einen neuen TV-L, begleitet von großen eintägigen Streiks. Normalerweise ist dies ein langweiliges Ritual, aber Deutschland hat die höchste Inflation seit 50 Jahren erlebt, so dass dieses Jahr ungewöhnlich pikant war.
»Red Flag« ist eine Kolumne über Berliner Politik von Nathaniel Flakin. Sie erschien von 2020 bis 2023 im Magazin »Exberliner« und fand ein neues Zuhause bei der Zeitung »nd« – als deren erster Inhalt, der auch auf Englisch zu finden ist. Nathaniel ist auch Autor des antikapitalistischen Reiseführers Revolutionary Berlin.
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Die Hauptgewerkschaften hinter dem TV-L – die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und Verdi (für Dienstleistungsbeschäftigte) – fordern 10,5 Prozent mehr Geld und mindestens 500 Euro mehr für alle. An den aktuellen Streiks beteiligen sich nicht nur Lehrkräfte, sondern auch Beschäftigte in Kindertagesstätten, Universitäten, Krankenhäusern, Behörden und viele mehr.
Aber auch vor dem TV-L streikten die Berliner Lehrer*innen. Sie wollen einen eigenen Tarifvertrag, den TV-G, um ihre Gesundheit am Arbeitsplatz zu schützen. Die Arbeit macht die Lehrkräfte krank, deshalb fordern sie kleinere Klassen. Die GEW will maximal 19 Schüler*innen in Grundschulen und 24 Schüler*innen in Gymnasien (sie schlägt eine komplizierte Tabelle vor). Wie »nd« berichtete, rief die GEW Berlin ihre Mitglieder in den vergangenen zwei Jahren zu 17 zusätzlichen Streiktagen auf.
Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten verdienen die Lehrer*innen in Deutschland mehr als einen Hungerlohn. Aber die Arbeitsbelastung ist unmöglich. Von Gymnasiallehrer*innen wird erwartet, dass sie 26 Stunden Unterricht pro Woche erteilen. Mit Benotung, Vorbereitung, Besprechungen und einer Million anderer Aufgaben summiert sich das auf über 50 und manchmal über 60 Stunden. Tausende von Lehrkräften arbeiten »Teilzeit« (immer noch mehr als 40 Stunden). Tausende leiden unter Burnout oder anderen chronischen Krankheiten.
Aufgrund des Lehrkräftemangels (und sogar eines Mangels an Lehramtsstudierenden) ist der Unterricht überfüllt oder fällt aus. Dies ist Teil einer allgemeinen Krise der deutschen Schulen. Wie die internationale PISA-Studie gerade gezeigt hat, schneiden die deutschen Schüler*innen so schlecht ab wie nie zuvor. Berlins Schulgebäude sind marode und mindestens 200 von ihnen sind voller Asbest. Manche Schüler*innen versuchen, den ganzen Tag die Toiletten zu meiden, da diese seit den 1950er Jahren nicht mehr renoviert wurden.
Wie mir Inés Haider, Sozialarbeiterin an einer Neuköllner Schule, erklärte, geht es hier nicht um »faule Lehrer«, die ihre Füße hochlegen wollen. Wenn 30 oder mehr Jugendliche in einem Klassenzimmer sind, »können die Schüler, die am meisten Hilfe brauchen, diese einfach nicht bekommen.« Die Lehrer*innen wollen ihre Arbeit machen, aber man lässt sie nicht. Die Gewerkschaft weiß, dass es keinen Zauber gibt, der Tausende von qualifizierten Lehrkräften hervorbringt – aber die Regierung könnte sich zumindest auf einen Plan zur Bewältigung der Krise festlegen.
Berlins Lehrkräfte streiken für ihre Kolleg*innen im öffentlichen Dienst, von denen viele weit weniger verdienen. Ryan Plocher, ein Amerikaner, der in Neukölln unterrichtet, erklärte mir das so: »Bildung braucht viel mehr als nur Lehrer. Wir brauchen Mitarbeiter in den Büros, Leute, die die Gebäude reinigen, Sozialarbeiter in der Stadtverwaltung – und sie alle müssen fair bezahlt werden!«
Die Lehrer*innen streiken vor allem für eine bessere Bildung für alle. Bob weist darauf hin: »Wenn man all die verpasste Arbeit und die Bezahlung der Babysitter zusammenzählt, dann wäre es billiger, den Lehrern einfach das zu zahlen, was sie verdienen.« Amen. Deshalb ist es schade, dass die GEW Eltern und Schüler*innen nicht zu den Streiks mobilisiert hat. Bob und ich und viele andere Eltern würden gerne unsere Solidarität zeigen!
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