Kolumbien: Hoffnung bei der Suche nach den Verschwundenen

In Kolumbien gibt es juristische Fortschritte bei nicht aufgeklärten massenhaften Tötungen in den letzten Jahrzehnten

  • Knut Henkel, Medellín
  • Lesedauer: 6 Min.

Nene deutet über das Häusermeer des Viertels Comuna 13, das ganz oben am Rande des Talkessels von Medellín liegt. »Dort drüben, jener weiße, große Fleck, dass ist die Müllkippe La Escombrera, wo etliche der gewaltsam Verschwundengelassenen verscharrt wurden«, erklärt er. Nene alias Carlos Alberto Sánchez Mosquera ist Hip-Hop-Sänger – Rapero, wie es hier heißt –, Fremdenführer und Sozialaktivist in Personalunion.

Vor mehr als 15 Jahren hat er mit zwei Freunden eine der wichtigen Kulturorganisationen von Comuna 13 gegründet: Son Batá. Das Ziel damals wie heute lautete: Den Drogenbanden und bewaffneten Akteuren ihren Nachwuchs abspenstig machen. Sie bieten eine Ausbildung an Musikinstrumenten, Breakdance und Graffiti an. Damit wollen sie eine Sensibilisierung für die eigene Geschichte und Identität fördern. An diesem Ansatz hat sich bis heute nichts geändert. Nur ist der Anlaufpunkt von Son Batá inzwischen ein großes, gelbes Haus mit Studio und Proberäumen und nicht mehr das kleine Haus mitten in einem der typischen Treppenviertel von Comuna 13, wo alles begann.

Nene ist ein Kind aus dem Viertel. Er ist gemeinsam mit seiner Familie vor der Gewalt in seiner Heimatregion, dem Departement Chocó, an den Rand Medellíns geflohen. Als Kleinkind ist er im Treppenviertel »Nuevos Conquistadores« – »Neue Eroberer« – angekommen, hier ist er aufgewachsen, und wie so viele andere Menschen steht er heute für den Wandel des Viertels. Comuna 13 galt einst als Ort der Gewalt und Kriminalität, die Präsenz von bewaffneten Akteuren prägte die Straßen und Gassen. Mittlerweile ist das Viertel ein touristischer Hotspot geworden. Doch die Wunden der Vergangenheit sind nur notdürftig verschlossen, hier und da ist noch ein Graffito zur Operación Orión zu sehen. Mehrere tausend Militärs und mit ihnen agierende Paramilitärs übernahmen mit der Aktion Mitte Oktober 2002 den strategisch wichtigen Stadtbezirk Medellíns. Knapp 100 Tote gab es damals, 92 Menschen verschwanden. Ihre Überreste würden unter anderem auf der Müllkippe La Escombrera vermutet, erzählt Nene.

Auch die Anwältin Adriana Arboleda hält das für wahrscheinlich. Die engagierte Juristin vom Anwaltskollektiv Corporación Jurídica Libertad forscht, recherchiert und vertritt mehrere Familien aus dem Viertel bei der Suche nach ihren Angehörigen. Die Spuren führen auf die Müllkippe La Escombrera und an weitere Orte in der Nähe von Comuna 13. Längst geht es nicht mehr um rund 100 Menschen, die verschwunden und nie wieder aufgetaucht sind, sondern um mindestens 463. Klarheit über die Opfer sollte eine Ortsinspektion der Sonderjustiz für den Frieden (JEP) am 22. November bringen, die zu den Fällen bis zum Abschluss des Friedensabkommens mit der Farc-Guerilla im November 2016 ermittelt, womit das Mandat der Sonderjustiz endete.

Gewaltsames Verschwindenlassen

Gewaltsames Verschwindenlassen bedeutet, dass Menschen von den staatlichen Sicherheitsbehörden an einem geheimen Ort gefangen gehalten oder getötet werden – ohne dass die Behörden dies zugeben. Die Familienangehörigen wissen nicht, was passiert ist, ob die Verschleppten noch leben, wo oder wo sie – wenn sie ermordet wurden – begraben sind. sie suchen die Person oft jahrzehntelang vergeblich und riskieren dabei, selbst ins Visier der Behörden zu geraten.
Nach Artikel 2 der 2010 in Kraft getretenen UN-Konvention zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen gilt als Verschwindenlassen »die Festnahme, Haft, Entführung oder jede andere Form von Freiheitsentzug durch Bedienstete des Staates, durch eine Person oder durch Personengruppen, die mit der Erlaubnis, Unterstützung oder Duldung (...) des Staates handeln, gefolgt von der Weigerung, die Freiheitsberaubung zu bestätigen, oder von einer Verschleierung des Schicksals oder des Aufenthaltsortes der verschwundenen Person, wodurch sie dem Schutz des Gesetzes entzogen wird.
Staaten, die das Übereinkommen unterzeichnet haben, verpflichten sich, das Verschwindenlassen von Personen unter Strafe zu stellen. Ein Freiheitsentzug darf nur in offiziell anerkannten Einrichtungen stattfinden, in denen alle Gefangenen registriert sind; Behörden müssen eine Person suchen, wenn es einen Verdacht auf gewaltsames Verschwindenlassen gibt. Neben dem Recht auf Wiedergutmachung haben Familienangehörige auch ein Recht darauf, die Wahrheit über den Verbleib der vermissten Person zu erfahren.
Die Konvention gegen Verschwindenlassen haben bis zum September 2023 immerhin 72 Staaten ratifiziert. Deutschland ist der Konvention 2009 ratifiziert, Kolumbien 2012. khe

Für Opferorganisationen wie Movice ist es aber wichtig, dass die Justiz aktiv bleibt. Arboleda, die auch bei Movice aktiv ist, schätzt die Zahl der landesweit Verschwundenen auf 120 000, die kolumbianische Wahrheitskommission geht von 100 000 aus und das staatliche Zentrum für historische Erinnerung von etwa 80 0000. »Die Dimension, die das gewaltsame Verschwindenlassen in Kolumbien hat und hatte, machen diese Zahlen nur allzu deutlich«, sagt Arboleda. Sie ist auch mit den Fällen rund um die Operación Orión vertraut und war bei der Besichtigung der Müllkippe dabei.

Die ist trotz aller Indizien immer noch nicht komplett für die Forensiker gesperrt wie es Arboleda seit Jahren fordert. Das liegt auch an einem Konflikt über Zuständigkeiten und die Finanzierung der Exhumierungen. Für die Opfer ist der Umgang mit den sterblichen Überresten ihrer Angehörigen ein Schlag ins Gesicht.

Solche Konflikte sind kein Einzelfall, erzählt Andrea Torres von der Stiftung Nydia Érika Bautista aus Bogotá. Die Stiftung, benannt nach einer von der Armee ermordeten Studentin aus dem Umfeld der Stadtguerilla M-19, vertritt derzeit 519 Familien in sieben Regionen des Landes. Für mehr reichen die Kapazitäten und die Mittel nicht, obwohl die Stiftung mit Sitz im Stadtteil La Soledad von Bogotá international bekannt ist. Menschenrechtspreise haben die hartnäckige Arbeit von Andrea Torres und ihrem Team auch im Ausland bekannt gemacht. Vor allem Familienangehörige von Opfern engagieren sich in der Stiftung – so wie Torres, die eine Nichte von Nydia Érika Bautista ist.

Ein gewichtiger Grund, weshalb sich die kolumbianische Justiz seit Jahrzehnten so schwer bei den Ermittlungen bei diesen Gewalttaten tut, obwohl sie nicht zuletzt die 2012 unterzeichnete UN-Konvention gegen das gewaltsame Verschwindenlassen verpflichtet: Das Gros der Opfer geht auf das Konto der Armee und der Polizei. Ermittlungen in deren Umfeld sind alles andere als einfach und für die Angehörigen oft mit persönlichen Risiken verbunden. »Es sind vor allem die Frauen, die diese Last tragen, die suchen, recherchieren, insistieren und immer wieder bedroht werden«, erzählt Torres. Auch sie persönlich benötigt Schutz und wird bei besonders brenzligen Missionen von Freiwilligen der Peace Brigades International, eine internationale Menschenrechts- und Begleitorganisation, nicht aus den Augen gelassen.

»Wer hat den Befehl gegeben?«, fragt diese Frau. In Kolumbien gibt es Tausende, die von einem Tag auf den anderen verschwunden sind und ermordet wurden.
»Wer hat den Befehl gegeben?«, fragt diese Frau. In Kolumbien gibt es Tausende, die von einem Tag auf den anderen verschwunden sind und ermordet wurden.

Die politische Stimmung unter der Regierung des erzkonservativen Präsidenten Iván Duque (2018 – 2022)wirkte sich negativ auf die Opferorganisationen aus. Die landesweiten Proteste im Rahmen des Generalstreiks Paro Nacional von 2021, als Demonstrationen, Straßenblockaden und Kundgebungen das Land von Ende April bis Mitte Juli paralysierten, sind das international bekannteste Beispiel dafür. In den knapp drei Monaten des Protestes verschwanden 379 Menschen spurlos. Dies geht aus den Recherchen des Nationalen Tisches zu gewaltsam Verschwundenen hervor, dem 26 Organisationen angehören. Auch Andrea Torres und Adriana Arboleda arbeiten dort mit.

Mit der neuen, im August 2022 vereidigten Regierung unter Präsident Gustavo Petro gibt es allerdings Fortschritte. Sie hat sich nicht nur zu den staatlichen Verbrechen der Vergangenheit bekannt, sondern auch das juristische Instrumentarium zur Verfolgung und Aufklärung des gewaltsamen Verschwindenlassens geschärft, sagt Torres. »Ein Beispiel ist die Resolution 107 vom Februar 2023, die einen nationalen Plan für die Suche nach gewaltsam Verschwundenen aufstellt und zusätzlich dazu eine Sucheinheit für die Opfer vorsieht.« Ein wichtiger Fortschritt, meint Torres, denn sowohl die Ermittler und Richter der Sonderjustiz für den Frieden als auch die Einheit zur Suche von Verschwundenen haben nur ein Mandat für Fälle bis November 2016.

Doch die Ermordungen und das Verschwindenlassen der Leichname sind in Kolumbien noch immer ein gravierendes Problem, wie die Fälle vom Paro Nacional belegen, von denen die meisten bis heute nicht aufgeklärt wurden. Das liegt auch an dem Generalstaatsanwalt Francisco Barbosa. Der konservative Hardliner konzentrierte die meisten juristischen Ressourcen auf die Kriminalisierung der Proteste; Ermittlungen gegen Polizei und Militär, die laut UN-Institutionen für zahlreiche Tote, gravierende Verletzungen von Protestierenden und eventuell auch für das gewaltsame Verschwinden von Demonstrant*innen verantwortlich sind, traten dagegen in den Hintergrund.

Die Resolution ist für Torres ein wichtiger Fortschritt; derartige Initiativen waren unter der Duque-Regierung undenkbar. Nun werden sie erfolgreich eingeführt. »Das ist kein Zufall. Die Regierung Petro hält sich an den Bericht und die Empfehlungen der Wahrheitskommission, die unter anderem mit Mitteln aus Deutschland finanziert wurden«, sagt Carlos Ojeda. Der Direktor der Menschenrechtsorganisation Fasol, die Opfer von Gewalt und Verfolgung aus dem Justizsektor vertritt, arbeitet anders als früher eng mit den Verantwortlichen aus dem Justizministerium zusammen. Auch Opferorganisationen suchen den Kontakt zum Ministerium. Die Hinterbliebenen aus dem Viertel Comuna 13 von Medellín haben neue Hoffnung auf Aufklärung geschöpft.

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