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Die Rückkehr nach Gaza
Wie Kontakt halten im Kriegszustand? Miriam Sachs war für Theaterprojekte immer wieder in Gaza
Der fast erwachsene Salem Alqumsan im gelbmetallenen Krankenhausbett blickt unerwartet entspannt in die Kamera und präsentiert sein Gipsbein. Es ist keine Kriegsverletzung. Das Facebook-Foto stammt vom September – nur ein Badezimmer-Ausrutscher. Die Welt hat sich verändert seitdem. Und wie groß Salem geworden ist!
So viel man über Gaza hört in den Medien, persönliche Nachrichten aus erster Hand fallen im Oktober spärlich aus. Kriegsberichterstattung via Facebook. Nächtelang warte ich auf ein Benachrichtigungs-Pling. Für die Familie Alqumsan, zu der Salem gehört und die, nachdem ihr selbst gebautes Haus und Kulturzentrum zerstört wurde, nicht direkt im umkämpften Zentrum Gazas, aber weit entfernt von der Evakuierungslinie bei Verwandten untergekommen ist, sind in der zweiten Oktoberhälfte, der Phase der Luftangriffe und des Artilleriefeuers, Krankenhäuser die Hoffnung auf sichereres Obdach. Platz für Gipsbeine gibt es dort jedoch nicht. Es ist Krieg; das kennt man in Gaza. »Aber das hier ist anders«, sagt Jamal Alqumsan, Salems Vater. Alles in der Welt entwickele sich, auch die Kriege.
Seine Frau Isra, warmherzig und klug, bittet mich zu vermitteln, unter welcher Hochspannung hier alle stehen. In früheren Kriegen gab sie den Kindern manchmal Schlaftabletten, damit sie zur Ruhe kamen. Jetzt ist die Lage so überwältigend, dass sich Schlaf fast verbietet. Der Beschuss reiße nicht ab. »Es verschlägt uns den Atem«, sagt sie, sonst ruhender Pol der Familie. »Wir rechnen jede Nacht mit dem Tod; damit, dass das Haus auf uns heruntergebombt wird«, schreibt zeitgleich Jamal im Facebook-Chat. Die zwölfjährige Samar, das jüngste Kind, gehe in Mantel und Schuhen zu Bett.
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Was mich mit dem Schauspieler und Regisseur Jamal Alqumsan und seiner Familie verbindet, sind sechs Jahre Zusammenarbeit an einem Theaterformat, das man in Gaza und in Deutschland gleichzeitig und gemeinsam auf die Bühne bringen kann. Das gemeinsame Interesse war, Literatur mit den Augen des jeweils anderen neu zu entdecken.
Als 2018 das letzte verbliebene Theater in Gaza bei einem Luftangriff zerstört worden war (der Luftangriff hatte eigentlich der wie so oft unterirdisch operierenden Hamas gegolten), fanden die Proben bis 2019 im Wohnzimmer der Alqumsans statt. Jamal ruderte als Hemingways alter Mann um sein Leben – auf dem Sofa in einem imaginären Meer. Die Nähe zur ganzen Familie schuf nicht nur Vertrautheit, sondern bedeutete: in Gazas Alltag einzutauchen, bevor die Premiere im Dezember doch stattfinden konnte. Endproben unter Raketenhagel, tagsüber kein Strom für den Beamer, Erklärungsnot der Hamas gegenüber, was man da eigentlich treibe. Das prägte die Arbeit. Auch der damals 15-jährige Salem, glühender Ronaldo-Fan, hilfsbereit herumhüpfend, rutschte wie von selbst in die Rolle des Jungen, der dem glücklosen Fischer zur Hand gehen will. Er sang in lauten Stimmbruchtönen so lange »Bella Ciao«, bis es auch das Lied ins Stück geschafft hatte. Heute ist an Theater nicht mehr zu denken. »Das hat keine Bedeutung mehr«, sagt Jamal. »Es gibt nur noch Tod und Zerstörung und Chaos.«
Die Worte Trauma oder PTSD (posttraumatisches Stresssyndrom) fallen nie in den Berichten der Alqumsans. Das sind in Gaza Fremdwörter; oft selbst für Ärzte. Das Auf und Ab der endlosen Gewaltspirale ist chronischer Belastungszustand. Es bedeutet viel, wenn ein Mann, wenn Jamal sagt: »Ich bin ein seelisches Wrack, ich bräuchte einen Psychiater, aber ich muss stark sein für die Kinder.«
Die 16-Jährige Salma, Salems Schwester, sagt Ähnliches: »Geht ja nicht anders! Ich muss gesund bleiben, um nicht psychologische Hilfe zu brauchen, wenn alles vorüber ist.« Was aber spräche gegen therapeutische Unterstützung? »Salma liest Selbsthilfebücher«, sagt ihr Vater, das sei ihr Weg, mit der Situation umzugehen. Und Romane. Gefragt nach der aktuellen Lektüre, nennt sie: »Return to Haifa« – und erklärt, dass das eine Stadt in Palästina sei.
Im Gazastreifen ist sogar Eskapismus ein Politikum. Müsste ich sie, um der politischen Correctness willen, auf die Unantastbarkeit des Staates Israel hinweisen? Müsste nicht gerade ich von deutscher Geschichte, vom Holocaust sprechen, ohne den die Staatsgründung Israels vielleicht nicht stattgefunden hätte? Die Siedlungspolitik von der anderen Seite aus beleuchten? Das alles ist Gesprächssprengstoff, den ich nie scheue, wenn ich vor Ort bin. Aber wie kann ich, 4000 Kilometer weit weg, in Sicherheit, einer 16-Jährigen, die dem Horror des Krieges entkommen will, die Lektüre eines Buches zerreden, das ich nicht einmal kenne? Gerne würde ich Salma zu Liebe Haifa ausnahmsweise Palästina zuschreiben.
Was genau liest sie da? Ist es ein Kitschroman, dessen Szenario, eine Stadt am Meer, sie sich ausschmückt, oder ein Propagandaschinken, der sie vielleicht von »Free Palestine« nicht nur träumen lässt? Und was meint sie, wenn sie sagt, Bücher seien ihr so wichtig, weil sie sich beim Lesen alles so ausmalen könne, wie sie will?
Und während ich noch krampfhaft überlege, was ich meiner dürftigen Antwort – »War noch nie in Haifa, aber es soll schön sein. Und die Leute dort more open-minded« – hinzufügen könnte, überrascht mich bereits die ihre: Das sei wahrscheinlich so, weil sich Juden und Araber dort viel mehr vermischen und gemeinsam leben. Sie fügt hinzu: »Wenn Gott will, fahren wir irgendwann zusammen dorthin.«
Nun lese ich auch das Buch. Seit das Internet in Gaza zusammengebrochen ist und ich ohne Nachricht bin, lenkt es auch mich ab. Obwohl es die Wurzeln des Nahost-Konfliktes wie unter einem Brennglas zeigt, erweist es sich keineswegs als propagandistisch, selbst wenn der Autor Ghassan Kanafani, einer der berühmtesten arabischen Schriftsteller, für klare agitative Positionierungen steht. Sein Thema ist die Vertreibung der Araber seit dem Unabhängigkeitskrieg 1948. Dass der auch in Israel viel gelesene Autor – sein Gesamtwerk ist auch ins Deutsche übersetzt – Mitglied einer linksextremistischen Terrororganisation war, macht ihn zu einem umstrittenen Autor, sein literarisches Werk aber findet differenziertere Töne, sowohl für die arabischen als auch die israelischen Charaktere.
»Rückkehr nach Haifa« ist die eines vertriebenen palästinensischen Ehepaares, das erstmals seit 20 Jahren zurückkehrt und dort den im Unabhängigkeitskrieg verloren gegangenen Sohn wiederfindet. Das kleine Kind von früher, von Holocaust-Überlebenden großgezogen, ist inzwischen beim israelischen Militär. Alle in diesem Buch haben ihre schlicht und ergreifend berechtigte Wahrheit. Und besonders die jüdische Adoptivmutter wirkt offener als der schmerzverhärtete leibliche Vater. Die Geschichte gibt beiden recht: der Historie ebenso wie der Handlung des Romans. Eine Lösung aber gibt es nicht, jedenfalls nicht bei Kanafani.
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An welcher Stelle im Buch mag Salma, die sich ein Happy End wünscht, gerade sein? Wie schnell kann man schon lesen in Nächten voller Detonationen und ohne Strom? Und wieso bleiben sie dort, wo sie sind?
Jamal windet sich, bevor er per Chat antwortet: Salems gebrochenes Bein! Aufbruch in Richtung Evakuierungslinie ist für die Familie nicht möglich. Mit einem Rollstuhl kommt man in Gaza zurzeit nicht weit. »Isra und ich sind nachts zu Fuß zum Al-Schifa-Krankenhaus gelaufen, hin und zurück zehn Kilometer durch die zerstörte, ausgestorbene Stadt. Aber alles ist überfüllt, kein einziger freier Quadratmeter, weder für Salem noch für uns.« Die Rückkehr in der Nacht, der rote Himmel, habe ihn an die Apokalypse denken lassen.
Bleibt die Flucht in Gedanken. Für Salma in die Welt der Bücher, für ihren Bruder Salem in die Musik. Für Samar spielt er auf der gitarrenähnlichen Oud, um sie zu beruhigen. Inzwischen ist der Gips ab. Aber das geschah nicht im Krankenhaus. Jamal hat den Verband in der Hoffnung aufgeschnitten, das Bein sei so weit geheilt.
»In the end we should try to get out of the mode that we are in« ist Salems Kommentar auf die Situation, und er meint damit, dass man, so ausgeliefert man auch sei, den Gedanken an den fast sicheren Tod »gut sein lassen« solle. Doch er fügt hinzu: »Trotzdem spiele ich, sogar wenn ich improvisiere, automatisch etwas Trauriges.«
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Die Alqumsans fanden am 4. November doch noch Platz im Al-Schifa-Krankenhaus – nicht stationär, sondern wie die meisten der zigtausend Vertriebenen in Fluren oder Zelten um das Gebäude herum – und landeten so an einem neuen Brennpunkt des Krieges. Hamas, heißt es seitens Israel, operiere unterhalb der Gebäude in Tunneln; eine altbekannte Taktik. Auch Gazas letztes Theater, offen für viele kontroverse Künstler, wurde so 2018 zum (für die Hamas willkommenen) Kollateralschaden.
Die letzte Nachricht von Jamal kommt per SMS: »Wir haben das Haus der Heilung verlassen«, so die wörtliche Übersetzung von Dar al-Shifa, das man mittlerweile als Massengrab bezeichnet. Jamals Handy ist seitdem ausgeschaltet.
Salmas »Rückkehr nach Haifa« ging verloren während der Odyssee, die für die Alqumsans noch immer kein Ende gefunden hat. Der Versuch eines Downloads der PDF-Version scheiterte am fehlenden Internet.
Der Wunsch zu wissen, was wirklich los ist in Gaza, und zurückzukehren – nicht jetzt, aber doch so bald wie möglich –, wird immer stärker.
Miriam Sachs, 1970 in München geboren, lebt heute in Berlin und ist Autorin und Regisseurin. Mit der Theaterfamilie Alqumsan brachte sie gemeinsam vier Produktionen erfolgreich in Gaza und Berlin auf die Bühne.
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