»Dialektik der Hure«: Imagination und Wirklichkeit

Was verkauft die Prostituierte dem Kunden? Theodora Becker entziffert die »Dialektik der Hure«

  • Magnus Klaue
  • Lesedauer: 6 Min.
Je wilder die Imagination über die Prostituierte wuchert, desto weniger gerät sie als Subjekt in den Blick: Prostituierte beim Warten auf die Kundschaft in der Hamburger Herbertstrasse.
Je wilder die Imagination über die Prostituierte wuchert, desto weniger gerät sie als Subjekt in den Blick: Prostituierte beim Warten auf die Kundschaft in der Hamburger Herbertstrasse.

In der Figur der Prostituierten verschränken sich Imagination und Wirklichkeit, projektive Sehnsucht und deprimierende Realität bis zur Ununterscheidbarkeit. Die Redewendung, es handele sich bei der käuflichen Liebe um das älteste Gewerbe der Welt, täuscht über das Spezifische der Prostitution, ihr Verwobensein mit der Geschichte kapitalistischer Warenwirtschaft ebenso wie mit der Geschichte der bürgerlichen Familie, hinweg. Sigmund Freud hat in seinem 1912 erschienen Essay »Die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens« in unübertroffener Schärfe formuliert, was liberale Gesellschaftstheoretiker ebenso wenig wie Kommunisten und Sozialisten, auch wenn diese sich kritisch mit dem Status der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft beschäftigten, zu sehen vermochten: den notwendigen, wenngleich verborgenen und verleugneten Zusammenhang zwischen bürgerlicher und prostitutiver Sexualität, »käuflicher« und vermeintlich zweckfreier Liebe. Selbst der bürgerlichen Denkform verbunden, formulierte Freud gerade aus dieser Verbundenheit heraus, was Bürger ebenso wenig wie Bürgerfeinde aussprachen: dass die Hure ebenso wie die Gattin, die Imago der reinen wie die der verworfenen Frau, als aufeinander verweisende Wechselbilder das Misslingen der Gesellschaft bezeugen, die beide hervorbrachte.

Nicht einfach die politische Ökonomie, sondern die Sexualität dieser Ökonomie ist der Ort, den aufsuchen muss, wer verstehen möchte, was die Menschen einander antun und weshalb. Chiffriert ist das Rätsel, das zu lösen wäre, weniger in der von Marx als »sinnlich unsinnliches Ding« beschriebenen Ware als in der Hure und ihrem Verhältnis zur Ware. Die Geschichte dieser politischen Ökonomie erzählt weder der Marxismus noch der Linkssozialismus, weder die bürgerliche Geschichtsschreibung noch der Liberalismus. Ansätze zu ihr finden sich bei Autoren, die außer diesem Erkenntnisimpuls wenig miteinander gemein haben: in Walter Benjamins Verständnis der Ware als Allegorie, in Georges Batailles Anti-Ökonomie, in Alexandra Kollontais Kritik der »neuen Moral der Arbeiterklasse«, in Paul Lafargues Schriften über die Kurtisane, in Georg Simmels Texten über Mode und Koketterie und nicht zuletzt in Karl Kraus’ zwischen 1902 und 1907 erschienenen Artikeln über »Sittlichkeit und Kriminalität«, in denen er anhand von Gerichtsprozessen gegen Prostituierte diese verteidigte, ohne sie zum Besseren der bürgerlichen Gesellschaft zu stilisieren.

Solch durchgehende Ambivalenz ist der Impuls von Theodora Beckers Studie »Dialektik der Hure«. Der Untertitel – »Von der ›Prostitution‹ zur ›Sex-Arbeit‹« – mag nahelegen, dass es sich um eine Intervention in gegenwärtige Debatten über Prostitution als weibliches Empowerment handelt. Der Eindruck täuscht jedoch. Tatsächlich ist Beckers Buch die erste – der Sache und nicht nur der Rhetorik nach – historisch-materialistische Rekonstruktion der Genese der Prostitution aus der in sich selbst aporetischen Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft. Dass es Becker nicht um eine Auflösung des Widerspruchs, sondern um seine Herausarbeitung geht, macht sie zu Beginn klar, indem sie die Hure als Sozialcharakter beschreibt, der nicht einfach die Widerspüchlichkeit der Warenform in der Sphäre der Sexualität ausdrückt, sondern ihn im Verhältnis zwischen Hure und Ware verdoppelt: »In Bezug auf den Status der Prostituierten folgt aus der Frage nach der Natur ihrer Ware die entscheidende Differenz, ob sie in diesem Handel Objekt oder Subjekt, selbst die Ware oder nur deren Verkäuferin ist – oder wie sie beides zugleich sein kann. Auch in Bezug auf den Kunden ist nicht ausgemacht, worin sein Verhältnis zu der erworbenen Ware besteht: Verhält er sich als (aktiver) Konsument oder als (passiver) Dienstleistungsempfänger oder ist er gar selbst (Mit-)Produzent der gekauften Ware?« Eine Ambivalenz, die, wie Becker betont, »grundsätzlich nicht einseitig auflösbar« ist.

Dass das Beharren auf der Unlösbarkeit des Widerspruchs die Bedingung seiner Entfaltung ist, ist ein Leitmotiv von Beckers Buch. In sechs Kapiteln entwickelt sie diesen Gedanken, indem sie in Form der von Theodor W. Adorno im Rückgriff auf Hegel als Sinnbild der Dialektik angeführten Echternacher Springprozession die immer selbe Frage in sozialgeschichtlich, politisch und weltanschaulich schroff wechselnder Konstellation vor Augen stellt. Im ersten Kapitel beschreibt sie anhand der Diskussionen um die sogenannte bürgerliche Verbesserung der Prostituierten, insbesondere in Lektüre des 1890 erschienenen Buches »Prostitution und Abolitionismus« des Venerologen Benjamin Tarnowsky, wie progressive und reaktionäre, erzieherische und medizinische Diffamierungen und Verteidigungen der Prostituierten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich darin ähneln, dass sie Prostitution als Verbrechen auffassen – »entweder als ein Verbrechen der Prostituierten an der Gesellschaft oder als ein Verbrechen der Gesellschaft an den Prostituierten«. Pädagogisierung, Moralisierung und Medizinalisierung folgen, ob sie die Prostituierten vor ihrem Umfeld schützen wollen oder umgekehrt, dem Paradigma der Delinquenz.

Das zweite Kapitel wechselt die Perspektive zur Erfahrung der Prostitution, ohne diese Perspektive gegen den Diskurs über Prostitution auszuspielen. Vielmehr verdeutlicht Becker an literarischen und philosophischen Texten der Jahrhundertwende (von Frank Wedekind, Otto Weininger, Karl Kraus), dass die Erfahrung der Prostitution als im Tauschverhältnis dem Tausch Inkommensurables, gleichsam als leiblicher Ausdruck des nicht vollständigen Aufgehens von Natur- in Gesellschaftsverhältnissen, ihrerseits vermittelt ist. In den Literarisierungen und ästhetischen Spiegelungen reflektiert sich – so ein selten formulierter, wichtiger Gedanke des Buches – das männliche Subjekt nicht als Herrscher und Potentat, sondern als geschwächtes: Gegenüber der weiblichen Sexualität erscheine die männliche als »geradezu lächerlich und nicht der Rede wert: Sie ist ›ärmlich‹, eine schlichte ›Funktion‹, der Mann benötigt zu ihrer Befriedigung bloß einen ›Apparat‹. … Sie enthält … keine das Subjekt transzendierende Verheißung mehr«. Diese Einsicht in die Depotenzierung des männlichen Sozialcharakters durch die bürgerliche Gesellschaft impliziert jedoch eine imaginäre und auch reale Verkennung des Status der Prostituierten, die als empirische den an sie sich heftenden Phantasien nicht gerecht werden kann.

Dann zeigt die Autorin, wie sowohl der bürgerliche Umgang mit solchen Phantasien wie die »neue Moral der Kommunisten« in immer schrofferen Widerspruch zur Wirklichkeit der Prostitution geraten sind. Sie beschreibt das »bürgerliche Regime der Prostitutionsregulierung«, das Prostitution nicht mehr als Verbrechen, sondern als »notwendiges Übel« behandelt, als Versuch des Exorzismus der Phantasien über Prostitution am Leib der Prostituierten, die, je wilder die Imagination über sie wuchert, desto weniger als Subjekte in den Blick geraten. Becker demonstriert komplementär hierzu, wie seit der Jahrhundertwende die sozialistische und kommunistische Verdammung von Prostitution als »bürgerliche Institution« eine Pseudosolidarisierung mit Prostituierten hervorgebracht hat, die als Subjekte ihrer eigenmächtigen sexualethischen Selbstkontrolle angesprochen werden. Gegenüber den bürgerlichen Phantasien von Prostitution bedeutet das eine Ernüchterung, die die Erniedrigung der Prostituierten auf andere Weise wiederholt: »Entweder sie (die Lust als Profession) befriedigt elementare Bedürfnisse, die andernfalls unbefriedigt blieben, oder sie ist Produktivkraft in der erotischen Reichtumsproduktion … Die Prostitution wäre dann nicht unbedingt gesellschaftlich notwendige Arbeit, aber Teil der Überschuss- und Luxusproduktion«. Als solche aber wird aus ihr erneut das Moment das Aporetischen, Inkommensurablen getilgt, das verstanden werden müsste, um zu begreifen, warum es Prostitution gibt und es sie nicht geben müsste.

Abschließend zeigt Becker, wie sich in den Debatten um den Arbeitscharakter der Prostitution und den Begriff der »sexuellen Dienstleistung« die historisch entfalteten Aporien unter veränderten Bedingungen reproduzieren. Dass sie jede der von ihr rekonstruierten Positionen – gerade auch wahnhafte wie die Otto Weiningers – ernst nimmt, ohne sich je vollständig mit einer zu identifizieren, dass sie Partei immer nur ergreift, um der Parteinahme sogleich die ihr entgegenstehende Wahrheit entgegenzusetzen, macht die Stärke dieses streng allein mit Blick auf seinen Gegenstand komponierten Buchs aus. Es wird keinen Sonderforschungsbereich und keine Diskurskontroverse begründen, und es wird sich Feinde machen, die auch untereinander verfeindet sind. Aber man sollte es lesen, hüten und wiederlesen.

Theodora Becker: Dialektik der Hure. Von der ›Prostitution‹ zur ›Sex-Arbeit‹. Matthes & Seitz, 592 S. , geb., 34 €.

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