- Berlin
- Arbeitsmarkt
Fachkräftemangel in Berlin: Die Macht der freien Plätze
Ein Bericht will die Situation der Berliner Betriebe im multiplen Krisenjahr 2022 erfassen
Die wirtschaftliche Lage ist angespannt. Das spüren die meisten Berliner*innen noch immer, wenn sie im Supermarkt einkaufen, ihre Strom- und Heizrechnung mit 2021 vergleichen. »Seit anderthalb Jahren leben wir in Berlin mit wirtschaftlichen Belastungen. Mit einer gestiegenen Inflation und gesunkenem Konsum«, sagt Berlins Senatorin für Arbeit, Soziales, Integration und Gleichstellung, Cansel Kiziltepe (SPD).
Auch in den Betrieben ist die wirtschaftliche Krise angekommen – eine Binse, schließlich sind es die Unternehmen, die die Verbraucherpreise erhöht haben. Wie sich das Krisenjahr 2022 im Detail auf die Berliner Betriebe ausgewirkt hat, der Frage widmet sich der Bericht des »Betriebspanels Berlin 2022«, den Kiziltepe am Mittwochmorgen vorstellte. Die Senatsverwaltung für Arbeit hatte die Analyse in Auftrag gegeben.
Der Auswertung zufolge fühlten sich 2022 fast die Hälfte (47 Prozent) der Betriebe wirtschaftlich vom Krieg in der Ukraine betroffen. »Dabei wurden als Auswirkungen am häufigsten gestiegene Kosten für Energie, Treibstoff, für sonstige Vorleistungen und Rohstoffe sowie Schwierigkeiten beim Bezug benötigter Produkte genannt, die verspätet oder gar nicht zu bekommen waren«, erklärte Marek Frei vom Forschungsinstitut Söstra (Sozialökonomische Strukturanalysen), das den Bericht verfasst hat.
Ausgewertet wurde eine Befragung von 980 Betrieben. Mit Blick auf Branchen und Größe sei eine für die Betriebslandschaft repräsentative Stichprobe erfasst worden. Die Berliner Wirtschaft sticht im Vergleich zum Bundesdurchschnitt mit einem hohen Anteil von Kleinstbetrieben heraus. 72 Prozent aller Betriebe hatten 2022 weniger als zehn Beschäftigte.
- Fachkräftemangel
69 Prozent der Betriebe mit Fachkräftebedarf verzeichneten unbesetzte Stellen. - Ausbildungslücke
Lediglich 17 Prozent der Betriebe beteiligten sich an Ausbildungen. - Ukraine-Krieg
47 Prozent der Betriebe fühlten sich wirtschaftlich vom Krieg in der Ukraine betroffen. - Kündigung
Wenn Arbeitnehmer*innen ein Unternehmen verließen, dann in 54 Prozent der Fälle nach eigener Kündigung. - Sinkende Tarifbindung
In 14 Prozent der Betriebe galt ein Tarifvertrag, in 7 Prozent gab es einen Betriebsrat. - Gleichberechtigung
66 Prozent der Betriebe wurden ausschließlich von Männern geführt. cle
Da Berlin gegenüber dem Bundesdurchschnitt einen erhöhten Fachkräftebedarf verzeichnet, stellt der Mangel an diesen eine besondere Herausforderung dar. Sowohl der Anteil der Betriebe, die angaben, dass ihnen Fachkräfte fehlen (69 Prozent), als auch der Anteil unbesetzter Fachkräftestellen (48 Prozent) an der Gesamtzahl befinden sich auf Rekordniveau. In der Informations- und Kommunikationsbranche suchten 73 Prozent aller Unternehmen mindestens eine Fachkraft, im Gesundheit- und Sozialwesen 54 Prozent.
»Für die Deckung des Fachkräftebedarfs ist die betriebliche Ausbildung die wichtigste Ressource der Betriebe«, sagt Frei. Doch: Weniger als die Hälfte (44 Prozent) der ausbildungsberechtigten Betriebe bildeten überhaupt aus. Gleichzeitig blieben 41 Prozent der Ausbildungsplätze unbesetzt. Dabei nannten nur 27 Prozent der Betriebe einen Mangel an Bewerbungen als Grund. Mehr als die Hälfte (56 Prozent) gab an, dass ihnen geeignete Bewerber*innen gefehlt hätten.
Die Studie deutet auch an, dass die Beschäftigten begreifen, dass sie begehrt sind. Wenn Arbeitnehmer*innen ihren Arbeitsplatz verließen, dann mit großem Abstand aufgrund eigener Kündigungen. Die Erkenntnis über den eigenen Wert der Arbeitskraft übersetzt sich jedoch nicht in eine Zunahme von kollektiver Macht. Wenn der Anteil der tarifgebundenen Unternehmen auf ein Rekordtief (14 Prozent) sinkt, scheinen Gewerkschaften ihr Potenzial nicht auszuschöpfen.
Kiziltepe sah das weniger pessimistisch und erklärte, dass gewerkschaftliche Organisierung hin zur Tarifbindung ein langer Prozess sei. Sie verwies auf politische Errungenschaften wie den Vergabemindestlohn und Tariftreueregelungen in Berlin. Die jüngsten Abschlüsse in der Tarifrunde der Länder bewertete sie ebenfalls positiv. »Auch innerhalb der Lieferdienste hat es gewerkschaftliche Erfolge gegeben. Mit Organisation gibt es bessere Beschäftigung, das merken die Berliner«, sagte Kiziltepe.
nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.
Die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine begreift Kiziltepe, wie Einwanderung allgemein, als Fachkräftepotenzial, das es noch besser auszuschöpfen gelte. Relevante Erkenntnisse über Geflüchtete aus der Ukraine lassen sich dem Panel jedoch nicht wirklich entnehmen, da die Daten bereits im dritten Quartal 2022 erhoben wurden. »Von der Datenerhebung 2023 erhoffe ich mir da bessere Erkenntnisse«, sagt Söstra-Mitautorin Silke Kriwoluzky.
Das Fachkräftepotenzial ausschöpfen heißt für Kiziltepe Arbeitsverbote abbauen. Und Ausbeutung müsse verhindert werden: »Denn mit Arbeit wird auch die Integration von Flüchtlingen viel leichter.«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.