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Moria oder Menschenrechte
Die Verhandlungen über das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) gehen in die entscheidende Runde
»Keine Morias mehr!« Kurz nach dem Brand in dem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos im Herbst 2020 kündigten europäische Spitzenpolitiker*innen einen »echten Neuanfang« in der Migrationspolitik an. Damals machte die EU-Kommission den Aufschlag für einen »Neuen Pakt zu Migration und Asyl«. Am Montag werden Europäischer Rat, Parlament und Kommission erneut über Kernpunkte dieser Reform verhandeln, die von befürwortenden und kritischen Stimmen gleichermaßen historisch genannt wird: Für die einen ist sie Symbol einer handlungsfähigen Europäischen Union, für die anderen die komplette Entrechtung Asylsuchender. Der Druck ist hoch, dass es in der nächsten Woche zu einer Einigung kommt und der »Neue Pakt« vor der Europawahl im Juni 2024 besiegelt wird.
Doch aus Verhandlungskreisen heißt es, dass sich Rat und Parlament noch in zentralen Punkten uneinig sind. »Wenn es in der kommenden Woche zu einer Einigung kommt, würde das in wesentlichen Punkten auf einer Kapitulation des Parlaments vor dem Rat basieren«, sagt Erik Marquardt von der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament dem »nd«. Er kritisiert, dass der Rat sich in den Verhandlungen kaum bewegt habe. »Das Parlament wollte Verbesserungen für Geflüchtete, aber auch Solidarität zwischen den EU-Staaten durchsetzen. Das wird wohl größtenteils nicht gelingen.«
Verteilung bleibt ungeregelt
Auf dem Tisch liegen mehrere Verordnungen. Für die Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU, die 2015/16 für viel Unmut unter den Mittelmeeranrainerstaaten geführt hatte, wurde nach wie vor keine Lösung gefunden. Zwar gibt es einen Solidaritätsmechanismus, die Mitgliedsstaaten können aber frei wählen, ob sie Geflüchtete aufnehmen oder sich finanziell beteiligen – etwa an Überwachung oder Abschiebungen. »Kein Mitgliedstaat wird jemals verpflichtet sein, Übernahmen vorzunehmen«, heißt es in einer Veröffentlichung des EU-Rats. Das Dublin-System, das Asylsuchende verpflichtet, im ersten »sicheren« Land Asyl zu beantragen, wird indirekt sogar ausgeweitet, indem die Anforderungen an sogenannte sichere Drittstaaten abgesenkt werden.
Damit könnten etwa Asylgesuche von Afghan*innen, die durch die Türkei in die EU eingereist sind, ohne inhaltliche Prüfung als unzulässig abgewiesen werden. Schon jetzt hat Griechenland die Türkei als sicheren Drittstaat für Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Bangladesch und Somalia eingestuft. Und das, obwohl selbst Afghan*innen und Syrer*innen dort nicht vor Abschiebungen in ihr Herkunftsland sicher sind und die Genfer Flüchtlingskonvention nicht gilt. Strittig ist hier, ob es ausreicht, dass jemand ein Land bloß durchquert hat.
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Haftähnliche Bedingungen für Kinder
Zentral sind außerdem verpflichtende Grenzverfahren für Asylsuchende aus Ländern mit einer Schutzquote unter 20 Prozent bzw. wenn jemand keine Dokumente vorweisen kann oder bei der ersten Anhörung widersprüchliche Aussagen gemacht hat. Dabei gelten die Menschen als »nicht eingereist«, obwohl sie sich faktisch auf EU-Territorium befinden. Das ist nur durch haftähnliche Zustände möglich, wie es schon jetzt in den »geschlossenen Zentren« auf griechischen Inseln praktiziert wird. Überfüllte Lagerstrukturen wie Moria wurden also keineswegs abgeschafft.
Die deutsche Bundesregierung hat der Verhandlungsposition des Rats im Juli zugestimmt, obwohl sie keine Ausnahmen für Kinder von Grenzverfahren durchsetzen konnte. Die spanische Ratspräsidentschaft schlug als Kompromiss in der vergangenen Woche vor, zumindest Familien mit Kindern unter sechs Jahren auszunehmen, der Rat will weiterhin gar keine Ausnahmen. Meike Riebau, Migrationsexpertin bei Save the Children, zeigt sich darüber »zutiefst besorgt«: »Die Kinderrechte gelten auch für Geflüchtete und müssen Maßstab für die gesamte Asyl- und Migrationspolitik sein«, sagt sie dem »nd«.
Ausnahmen bei »Instrumentalisierung«
Ein weiterer Streitpunkt ist die »Instrumentalisierung« als Teil der Krisenverordnung, die der Rat nachträglich in die Verhandlungen eingebracht hat. Diese soll es den Mitgliedsstaaten erlauben, in bestimmten Situationen von den geltenden Regeln abzuweichen und beispielsweise Grenzverfahren auszuweiten oder deren Dauer zu verlängern. »Dieses Konzept ist ein trojanisches Pferd, das die Mitgliedstaaten missbrauchen werden, um die Ausnahme zur Regel zu machen. Auf diese Weise werden sie das Recht auf Asyl vollständig aushöhlen«, kritisiert Cornelia Ernst, die für die Linke im EU-Parlament an den Verhandlungen beteiligt ist, gegenüber »nd«. In der Vergangenheit warf etwa Polen Belarus vor, Migrant*innen »instrumentalisiert« zu haben und führte massenhaft illegale Pushbacks durch. Statt diese systematischen Rechtsbrüche an den EU-Außengrenzen zu beenden, könnten sie durch dieses Tool legalisiert werden, befürchten Menschenrechtsorganisationen.
Das Parlament könnte den Pakt immer noch ablehnen. Dann müsste der Gesetzgebungsprozess von vorn anfangen. Kritiker*innen halten dies jedoch für die bessere Option. Würde der Pakt umgesetzt, gelten die Verordnungen automatisch in der ganzen EU.
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