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Traumzugang in ein fremdes Land
Über Friederike Kretzens Persien-Buch »Bild vom Bild vom großen Mond«
Schon ihr letztes Buch war ein Reisebuch, und schon in der 2017 erschienenen »Schule der Indienfahrer« waren reale und gedankliche Reisen ineinander verwoben zu einem poetischen Geflecht, einer Prosa, die nicht gefangen nimmt mit ihrer Story, sondern durch einen ganz eigentümlichen Sog aus sprachlichen Bildern und Assoziationen. Wenn das neue Buch der Sprachkünstlerin Friederike Kretzen im Untertitel »Roman einer Reise« heißt, dann ist das etwas irreführend: Hier spricht unmaskiert das Erzähler-Ich einer Autorin, die nach Teheran reist und dort an der Schweizer Botschaft auftritt, über ihr geplantes Persien-Buch spricht, Museen besucht und Künstlerinnen trifft. Um ein Reisejournal handelt es sich aber ebenso wenig, denn auch wenn die Chronologie von der Ankunft in Teheran bis zur Weiterreise nach Isfahan gewahrt ist, sind doch die zeitlichen Sprünge und Abschweifungen zahlreich, und die Sprache bewegt sich oft weit weg vom Protokoll der laufenden Ereignisse.
Diese Reisende ist eine privilegierte Besucherin aus dem Westen, und auch wenn sie Botschaftsempfänge und Universitäten besucht, ist sie doch keine typische Jetsetterin des Kulturbetriebs. Die Erzählerin hat während ihrer Studienzeit in Gießen junge Perser kennengelernt, die nach der Revolution plötzlich verschwunden waren; und sie war 40 Jahre vor der neuerlichen Reise, auf dem Weg nach Indien mit einer Freundesgruppe zum ersten Mal im Iran. Jetzt zieht es sie wieder dorthin und sie wendet sich an den Schweizer Botschafter: »All die untergegangenen Gegenden in uns, schreibe ich ihm, mit ihren Sternen und kleinen Monden, wie sie uns manchmal nachts, in Träumen, oder kurz bevor wir erwachen, aufgehen. Irgendwo müssen die sich doch aufhalten?« Die Relativität des geografischen Standorts wurde ihr schlagartig bewusst, als sie in Mumbai erfuhr, dass der Indische Ozean dort Arabische See genannt wird: »Sofort dreht sich der Raum, steht kopf. Ich gerate in einen Wirbel, werde herumgeschleudert. Und mit mir die Geografie meiner inneren Anschauung. Ist alles, was ich je erlebt habe, verkehrt herum gewesen?«
»Bild vom Bild vom großen Mond« kann man heute schwerlich lesen, ohne an die Ereignisse im Iran nach Mahsa Aminis Tod im September 2022 zu denken, die in dem Buch aber keine Rolle mehr spielen können. Kretzen vermeidet zwar konkrete Erörterungen der politischen Lage und gibt auch keine politischen Diskussionen wieder. Und doch scheint irgendetwas in der Luft zu liegen: »Jeden Tag wieder. Warten, dass etwas aufhört, der Vorhang sich öffnet. Ist es nicht das, was sie mir alle sagen, jeden Tag?« Die Erzählerin indes bewegt sich mit offenen Augen durch die Megalopole und beschreibt Orte, an denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, verfallende modernistische Bauten aus der Zeit des Schahs. Dass ein Theater 1973 ausgerechnet mit Tschechows »Kirschgarten« eröffnet wurde, deutet sie als »Vorwegnahme des Untergangs«: »Was sonst hätten sie damals spielen sollen? Spiel vom Ende und Endspiel. Schlafen, sterben. Die Komödien gehen weiter.«
Einmal, während einer Architektur-Führung, kommt es zu einem Tumult vor einer Moschee, und die Frage drängt sich auf: »Ist die Revolution ausgebrochen? Kämpfe, Entfesselungen?« Nein, die Revolution ist noch nicht ausgebrochen, und es gibt auch keine Erklärung für den Zwischenfall. Das Regime ist im Alltag präsent und hat unmittelbare Auswirkungen auf das Leben aller. Soll eine Künstlerin, die im Westen studiert hat, ihren französischen Freund heiraten und das Land endgültig verlassen?
Manche flüchten sich in Sarkasmus: »Sie sagen, sie warten, sie sagen, wir gehen nicht, harren aus. Sagen, wenn wir hundert sind, sind alle Frauen frei.« Dass es so nicht ewig weitergehen kann, scheint klar. Aber wie lange noch? »Etwas wird geschehen, sagt Maryam, wir werden erwachen. Wir oder die kommenden Generationen. Nichts, wofür unsere Eltern und Großeltern gekämpft haben, ist erledigt.«
Friederike Kretzens »Roman einer Reise« beginnt mit einer Frage: »Habe ich Persien gesehen oder einen Film von Kiarostami?« Dass sie die Welt nicht zuletzt durch die Brille ihrer Lektüren und ästhetischen Erfahrungen wahrnimmt, ist der Erzählerin bewusst und wird in dieser Prosa reflektiert. Und auch das titelgebende »Bild vom Bild« ist ja nicht einfach nur ein Bild. Als die Erzählerin auf einer Universitätsveranstaltung auf ihr Persien-Buch angesprochen wird, zitiert sie Michel Foucault, der sich 1979 für die iranische Revolution begeisterte, nach Teheran fuhr und von »politischer Spiritualität« schrieb: »Das ist sein Traum von den vielen Orienten, ihren Unzugänglichkeiten und den Subjekten, die sich gegen die Ratio jeglicher Universalität erheben. Danach suche ich auch mit meinem Buch.« Darauf meldet sich ein Mann aus dem Publikum und wendet ein: »Ist das nicht einfach die Flucht aus der Sinnlosigkeit des Westens? (…) Wir leiden, versuchen auszuhalten, bleiben, wollen aber nicht so hier sein, wie wir sind. Nur in den Westen wollen wir nicht. Amis go home. Der Westen ist die Leere.«
Friederike Kretzen: Bild vom Bild vom großen Mond. Roman einer Reise. Dörlemann, 288 S., geb., 25 €.
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