- Kultur
- Elon Musk
X: Der ominöse, bedrohliche Buchstabe
Von Algebra bis Marvel-Mutanten – X begegnet man in vielen kulturellen Kontexten. Elon Musk kennt sie alle und betreibt damit Politik
Tolle Sache, so eine Variable! Ein Buchstabe, der alles Mögliche bedeuten kann. Mathematiker*innen ahnen, wovon jetzt die Rede sein wird. Richtig, von jenem »x« in Gleichungen und Formeln, das seit Jahrhunderten die Köpfe von Lernenden und Forschenden zum Rauchen bringt. Es war René Descartes, der das Symbol in die europäische Wissenschaftspraxis eingeführt hat. Gilt der französische Philosoph (»Ich denke, also bin ich«) doch auch als Pionier der Darstellung geometrischer Probleme durch algebraische Formeln. Dabei griff er für unbekannte Größen auf die drei letzten Lettern des Alphabets zurück: x, y, z. Der erste davon hat die größte Karriere gemacht – und beherrscht dank Elon Musk gerade alle Nachrichten.
Für den gebürtigen Südafrikaner wurde das X zum Emblem eines steilen Aufstiegs. Im Namen seines Raumfahrtunternehmens SpaceX begegnet der Symbolbuchstabe ebenso wie bei dem Tesla-SUV Model X. Sogar seinen Sohn, der ihn wie ein Erbprinz bei öffentlichen Terminen begleitet, nannte der illustre Milliardär X Æ A-Xii. Privat soll Musk den Vierjährigen meist »X« rufen.
Doch schon der PayPal-Vorläufer, den der heute reichste und mächtigste Mann der Welt in den späten 1990ern gründete, hieß x.com. 2017, lange nach seinem Ausscheiden, kaufte Musk die Internet-Domain zurück. Da lagen die Pläne für seinen wichtigsten Coup wohl schon in der Schublade: den Kauf des Kurznachrichtendienstes Twitter im Oktober 2022 und die Umbenennung in X. Seitdem ist die Plattform bekanntlich zum Schlammbad rechtsextremer Hetze und kruder Verschwörungsmythen heruntergekommen. Das hat vermutlich mit zum Wahlsieg Donald Trumps 2024 beigetragen.
Bis in die Körpersprache identifiziert sich Musk mit dem eigenen Logo. Ein Mann, ein Buchstabe.
Bereits lange vor Musk eroberte der algebraische Statthalter für kleine oder große Zahlen auch die Populärkultur. Man denke nur an X-Men. Film- beziehungsweise Comic-Superhelden aus dem Marvel-Universum, die ihre übernatürlichen Fähigkeiten einer genetischen Mutation verdanken. Oder an die desillusionierte »Generation X«. Der Titel des Romans von Douglas Coupland ist zum demografischen Schlagwort für die Jahrgänge zwischen 1965 und 1980 geworden.
Aber woher kommt das X? Fragt man nur nach den Ursprüngen des Buchstabens, führt die Spur zu den Phöniziern. Ihr Alphabet wurde später von den Griechen übernommen. Indes haben die zwei Schrägstriche, die sich in der Mitte kreuzen, noch ältere Wurzeln. Von Felswänden kennen Vor- und Frühhistoriker reduzierte Darstellungen menschlicher Gestalten mit leicht gegrätschten Beinen und diagonal erhobenen Armen. Manche recken Keulen oder Speere in die Höhe. Diese Körperhaltung kann Ausdruck eines Triumphs bei der Jagd sein, sie sagt möglichen Feinden aber auch: Vorsicht, wir wissen zu kämpfen! Grafisch abstrahiert, ergibt die Abschreckungspose das, was wir als X oder Andreaskreuz bezeichnen. Als solches hat die Warngeste der frühen Menschen in vielerlei Kontexten überlebt. Auf mittelalterlichen Schilden sieht man oft Malereien oder Metallbeschläge in X-Form. Auch die gekreuzten Knochen auf der Piratenflagge könnten hiervon beeinflusst sein. Im modernen Straßenverkehr findet sich mit dem rotweißen Schrägkreuz vor Bahnübergängen ebenfalls ein Beispiel für die Obacht-Funktion.
All diese Zusammenhänge wird auch Musk kennen. Dass seine Aktivitäten unter dem Banner eines einzigen Buchstabens stehen, erhöht wie bei jeder Marke deren Wiedererkennungswert. Und was würde besser zu einem Tech-Riesen passen als etwas, das in kaum einem Algorithmus fehlt? Gleichwohl steckt noch mehr dahinter. Bis in die Körpersprache identifiziert sich Musk mit dem eigenen Logo. Gern springt er bei Auftritten spreizbeinig und mit hochgestreckten Armen in die Luft, um selbst zum X zu werden. Ein Mann, ein Buchstabe.
Macht sich diese Symbolpolitik nicht exakt das zunutze, was die mathematische Signatur seit Jahrhunderten auszeichnet? Seine Offenheit. X kann (als griechisches chi) eine Signatur Christi sein, als Andreaskreuz auf Folterpraktiken oder Sadomasochismus referieren und dann wieder eine emanzipatorische Idee vermitteln. Wie bei Malcolm X: Das X stand für den afrikanischen Familiennamen, den der schwarze Bürgerrechtler nie erfahren hat, da seine Vorfahren verschleppt wurden. Zugleich protestierte das Kürzel gegen die von den Sklavenhaltern aufgezwungenen Nachnamen. Die rassistische Praxis wurde weggeixt. Eine Durchstreichung.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Je nach Umstand bedeutet das X also Unterschiedliches. Genau deshalb spricht man von einer Variable. Darin steckt das spätlateinische »variabilis«, was sich mit »wandelbar« übersetzen lässt. Und diese Eigenschaft passt perfekt zu Musk. Wie Donald Trump zeigt auch der Tesla-CEO Züge eines erratischen Verhaltens. Erst droht er, der Ukraine das wichtige Starlink-System abzuschalten, dann versichert er, dies niemals tun zu wollen. 2018 schon sorgte der toxische Tech-Bro mit der Nachricht, Tesla zum Kurs von 420 Dollar zu privatisieren, für Unruhe. Sein abruptes Zurückrudern ließ sich der Geschichtenerzähler am Ende sogar eine Geldstrafe der Börsenaufsicht kosten. Bei der vorletzten Präsidentschaftswahl hat der aktuell wichtigste Unterstützer der US-Republikaner für die Demokraten gespendet.
Auf welche der unterschiedlichen Bedeutungen des Schrägkreuzes Musks Ixomanie abzielt, bleibt so offen wie alle seine Absichten. Will er radikalliberale Gesetze für sein Firmenimperium oder greift er selbst nach dem Oval Office? Soll Tesla zu einem autonomen Konzernstaat werden oder laufen die Zukunftspläne auf eine technofaschistische Weltherrschaft hinaus?
Man muss dabei gar nicht auf Charlie Chaplins Hitler-Parodie »Der große Diktator« verweisen, in der ein X das Hakenkreuz ersetzt. Andere Bezüge genügen Musk völlig für sein böses Spiel: X ist Geheimnis und das Unbekannte von Natur aus beunruhigend. Heißt nicht eine legendäre Mystery-Serie »Akte X«? Der Konzernautokrat genießt offenbar die doppelte Macht seines Psycho-Marketings. Einerseits schürt der bekennende Ketamin-Konsument kollektive Ängste vor einer ungewissen Zukunft. Andererseits inszeniert er sich als populistischer Messias, der dank seiner medialen wie ökonomischen Potenz als einziger zukünftige Sicherheit, Wohlstand und digitalen Fortschritt garantieren kann. Mit all dem führt Amerikas Schattenpräsident einen Nervenkrieg gegen die Gesellschaft. US-Staatsbedienstete werden mit juristisch zweifelhaften Kündigungsmails, Fristsetzungen und Aufforderungen zum Leistungsbericht eingeschüchtert. In den deutschen Wahlkampf griff Musk zugunsten einer in Teilen rechtsextremen Partei ein.
Unter der Sigle X lauert eine existenzielle Drohung. Nicht nur Amerikas Behörden oder Tesla-Angestellte sollen sich fürchten, sondern die ganze Welt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.