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Nachruf auf Hildegard Brenner: Theorie, soweit sie Folgen hat

Hildegard Brenner war Pionierin der NS-Forschung und der literarisch-theoretischen Debattenkultur in der BRD

  • Moritz Neuffer
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Literaturwissenschaftlerin und Publizistin Hildegard Brenner 1981 in Italien, ein Bild aus ihrem privaten Nachlass
Die Literaturwissenschaftlerin und Publizistin Hildegard Brenner 1981 in Italien, ein Bild aus ihrem privaten Nachlass

Im Frühjahr 1973 berichtete die Bremer Lokalpresse von Aufruhr auf einem Schulhof der Hansestadt: »Grundschüler zur Hetze verleitet: Bremer Studenten starteten Flugblattaktion gegen GEWOSIE«, hieß es in der »Norddeutschen Rundschau«. Stein des Anstoßes war ein Projektseminar der Universität Bremen gewesen, in dem Lehramtsstudierende mit ihren Schüler*innen Aufsätze über deren Wohnverhältnisse geschrieben und diese in Umlauf gebracht hatten. Dass bei der Aktion die genannte Wohnungsbaugenossenschaft schlecht wegkam, erzürnte deren Vorstand ebenso sehr wie den Elternbeirat der Schule, der bei der Unileitung Beschwerde einlegte. Eine Strafanzeige stand im Raum, und auch überregional wurde über die Aktion der »Chaoten« von der »roten« Universität berichtet. Die für das Seminar verantwortliche Professorin Hildegard Brenner, die seit 1971 in Bremen lehrte, dürfte die verursachte Empörung eher mit Wohlwollen betrachtet haben. »Theorie schien uns nur wichtig, soweit sie Folgen hat, und die sollten aufweisbar sein«, lautete schließlich einer der Leitsätze der Zeitschrift »alternative«, die Brenner damals herausgab.

Zentrum der Debattenkultur

Seit 1964 hatte Brenner das kleine Magazin in eines der meistgelesenen Debattenforen der westdeutschen Neuen Linken verwandelt und dessen Auflagenzahlen von wenigen hundert auf rund 10 000 Exemplare gesteigert. Praxisbezogenen Interventionen in (wissens)politische Kämpfe verdankte sich die Beliebtheit der in Rot und Schwarz gehaltenen Hefte ebenso wie den in ihnen geführten Theoriedebatten: Die politische Generation von 1968 konnte in der »alternative« nicht nur den kritischen Marxismus der Zwischenkriegszeit – Benjamin, Brecht, Korsch, Lu Märten, Carl Einstein und weitere – entdecken, sondern auch den französischen Strukturalismus und später die feministische Psychoanalyse.

Für ihre studierenden oder promovierenden Redakteur*innen wurde die 1927 geborene Brenner dabei zu einer Anleiterin, wenn nicht gar Lehrerin in Sachen publizistisch-intellektueller Arbeit. »In einer Zeit, in der es nicht leicht war, linke Studenten bei der Arbeit zu halten, gelang es ihr, in ihrem Kreis äußerste Disziplin walten zu lassen und Hefte herauszugeben, die man in seine Bibliothek einstellen muss«, schrieb der Religionssoziologe Jacob Taubes in einem Gutachten über Brenner, als diese sich auf eine Professur bewarb.

Dass der Name Hildegard Brenner trotz ihrer Verdienste um die literarische und theoretische Debattenkultur in der Intellektuellengeschichtsschreibung der BRD nur selten fällt, überrascht kaum angesichts der Tatsache, dass in deren Kanon vor allem »große« Männer mit »großen« Büchern eingehen. Dabei lässt sich gerade an der Arbeit Hildegard Brenners aufzeigen, welche Prägekraft publizistische Arbeit nicht nur für die Verbreitung, sondern auch für den inhaltlichen Verlauf geistesgeschichtlicher Debatten haben konnte und kann.

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Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist im Falle Brenners der aufsehenerregende Streit um das Erbe Walter Benjamins, den die »alternative« ab 1967 öffentlich mit Theodor W. Adorno und dem Suhrkamp-Verlag führte, in dem Benjamins Werk herausgegeben wurde. In dem Disput ging es darum, Benjamin als den marxistischen, sozialrevolutionären Denker zu rehabilitieren, zu dem er sich im Laufe seines Lebens entwickelt hatte, was durch die Frankfurter Editionspolitik aber unter den Teppich gekehrt worden sei. Die Positionen zum Ort Benjamins in der Kritischen Theorie, die in diesem Streit eingenommen wurden, sind bis heute nicht abschließend ausdiskutiert.

Arbeit, nicht Fleiß

Hildegard Brenner schrieb einmal, sie wolle nicht »fleißig« genannt werden, weil dies häufig das einzige Attribut sei, mit dem Frauen in Wissensberufen »dekoriert« würden. Ihre Theoriepolitik war demgemäß immer wieder auch ein Engagement für weibliche Sichtbarkeit in männerdominierten Debatten. So rückte sie in der Kontroverse mit den Frankfurter Benjamin-Herausgebern beispielsweise die lettische Theaterregisseurin Asja Lācis ins Rampenlicht, die bis dato ein Dasein im Schatten ihres prominenteren Jugendfreundes geführt hatte. Lācis’ Unsichtbarkeit sah Brenner damals ebenfalls in der Editionspolitik der Frankfurter begründet: Als 1955 der bedeutende »Neapel«-Aufsatz in den Schriften Benjamins erschienen war, war der Name der Mitautorin ebenso gestrichen worden wie die ihr geltende Widmung von Benjamins »Einbahnstraße«. Mit dem Band »Revolutionär im Beruf« gab Brenner 1971 nicht nur die erste und einzige deutschsprachige Buchpublikation von Lācis heraus, sondern der damals 80-jährigen auch ihren Platz in der Geistesgeschichte zurück.

Dass Brenner allem voran eine engagierte Herausgeberin war, heißt nicht, dass sie kein eigenes »großes« Buch vorzuweisen hatte: 1963 war in der populären Taschenbuchreihe »Rowohlts deutsche Enzyklopädie« ihre Studie »Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus« erschienen, die als grundlegende Untersuchung zu Instrumentalisierung, Vernichtung und Raub von Kunst im NS-Deutschland auch heute noch in der Forschung diskutiert wird. An den Arbeitsunterlagen in Brenners Nachlass, der sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet, lässt sich nachvollziehen, gegen welche Widerstände ankämpfte, wer um 1960 zum NS forschte: Die Palette reicht von verweigerten Archivzugängen bis zu juristischen Anfeindungen. Ohne akademische Institution im Rücken gelang es Brenner nichtsdestotrotz, eine materialreiche Rekonstruktion der Kunstpolitik im NS vorzulegen, die zugleich eine theoretisch informierte Analyse nationalsozialistischer Herrschaftsmechanismen bot. Mit Benjamin ordnete sie den nationalsozialistischen Extremfall der »Ästhetisierung der Politik« in größere gesellschaftstheoretische Zusammenhänge ein und leistete so auch einen Beitrag zu den faschismustheoretischen Debatten der 60er Jahre.

Das einst von Benjamin eröffnete Spannungsfeld zwischen der (faschistischen) »Ästhetisierung der Politik« und der (kommunistischen) »Politisierung der Kunst« bildet auch um weitere Arbeiten Brenners eine Klammer. Schon in ihrer ersten beruflichen Tätigkeit als Kulturjournalistin hatte sie sich grundlegend mit dem Verhältnis von Kunst und Politik auseinandergesetzt, als sie ab 1953, nach abgeschlossener Doktorarbeit über Hölderlins Dichtungstheorie an der FU Berlin, mehrere Jahre lang für westdeutsche Radiofeuilletons aus der DDR berichtete. Einerseits kritisch gegenüber dem autoritären Zugriff des Staates, äußerte sie andererseits durchaus Sympathie für die tragende gesellschaftliche Rolle, die den Künsten in der sozialistischen Gesellschaft zugeschrieben wurde. Fortan galt ihr Interesse und publizistisches Engagement nicht zuletzt DDR-Intellektuellen wie Müller oder Biermann, die Sozialist*innen waren, aber mit den Leitlinien der SED in Konflikt standen und gerade deshalb, wie Brenner einmal schrieb, als Kommunist*innen die Wirklichkeit an den Verheißungen des Kommunismus messen konnten. Den deutsch-deutschen Literaturaustausch förderte neben mehreren »alternative«-Heften auch Brenners DDR-Anthologie »Nachrichten aus Deutschland«, die 1967 bei Rowohlt erschien.

Chronik der Selbstverständigung

Kritische Grenzgänge – und das hieß nicht zuletzt: innerlinke Kontroversen und Auseinandersetzungen über doktrinäre Verhärtungen und schlechte Wege des Marxismus – waren für Brenner immer auch Teil des Selbstverständigungsprozess über Theorie und Praxis in der bundesrepublikanischen und internationalen Neuen Linken. Heutzutage lässt sich die »alternative« als eine fortlaufende Chronik dieses Selbstverständigungsprozesses lesen. Ein wichtiges Kapitel darin ist nicht zuletzt die Auseinandersetzung darüber, wie nach langer politisch-intellektueller Arbeit mit enttäuschten Erwartungen und ausbleibenden »Folgen« umzugehen sei: Als die Aufbruchstimmung von 1968 gegen Ende der 70er Jahre vielerorts in linke Melancholie umgeschlagen war, votierte Brenner für ein konsequentes Ende ihrer Zeitschrift – nicht ohne das Auseinanderbrechen der politischen Generation von 1968 selbst zum Gegenstand einer fundierten Theoriediskussion zu machen.

»Nicht die marxistische Theorie ist zu Ende, sondern das Terrain, auf dem wir als Linke in den 1960er und 1970er Jahren mit und an dieser Theorie gearbeitet haben, ist nicht mehr der Ort ihrer Wirkung«, schrieb sie, bevor sie auf privates Terrain wechselte – und die bis heute nicht abgeschlossene Diskussion über das Erbe und das Nachleben von 1968 anderen überließ. Anfang März ist Hildegard Brenner mit 97 Jahren in Berlin verstorben.

Moritz Neuffer ist Historiker und Kulturwissenschaftler. 2021 erschien im Wallstein-Verlag sein Buch »Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift alternative, 1958-1982«.

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