Antonio Negri: Der große Zauberer

Antonio Negri ist tot – ein Blick auf Schwächen und Stärken des Postoperaismus

  • Gerhard Hanloser
  • Lesedauer: 7 Min.

Der italienische Philosoph und marxistische Stratege Antonio Negri ist am Wochenende in Paris 90jährig gestorben. Zusammen mit dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Hardt bildete er ein produktives Autorenduo, das sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts an einer Reformulierung marxistischer Theorie versuchte: Erst kam »Empire« (2000), dann »Multitude« (2006) und schließlich »Common Wealth« (2009) in die Diskussion.

Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, inmitten der Stagnation der zapatistischen Bewegung in Mexiko und zeitgleich zum neuen globalisierungskritischen Aufbruch präsentierten Negri und Hardt in »Empire« eine große Erzählung, die in der Anrufung einer neuen, kommunistischen und klassenlosen Gesellschaft mündete. Das war mutig gegen das Ende der Geschichte angeschrieben, und nicht wenige linke Initiativen und Projekte, wie die Wiener Zeitschrift »Grundrisse«, bezogen sich explizit auf die von Negri und Hardt entwickelten Vorschläge. Doch nicht unwesentliche Teile der linken Gemeinde, der sich beide verpflichtet fühlen, rebellierten. Zu blumig, zu wenig marxistisch, zu anarchoid sei ihre Theorie geraten, im Übrigen erinnere »Empire« an berufsoptimistische Managerlektüre.

Kritisiert wurde die optimistische Skizzierung eines neuen, netzwerkartig organisierten Empire, das die Dominanz alter imperialistischer Nationalstaaten, beziehungsweise militärisch herrschender Hegemonialstaaten im Weltsystem hinter sich gelassen habe. Besonders der unilateral ausgefochtene Irak-Krieg der Bush-Administration 2003 schien für eine Wiederkehr des klassischen Imperialismus zu stehen und dementierte diese imperiale Netzwerk-Theorie. So mussten sich Hardt und Negri auch in »Common Wealth« korrigieren, worin sich Passagen zum jüngsten Golfkrieg finden, doch darin erschienen imperiale und imperialistische Aktionen wiederum nur als Ausnahme: Das neokonservative Bush-Abenteuer wird als zufällige Anormalität und gescheiterter Staatsstreich interpretiert, der die Tendenz zu einer Global Governance als postdemokratischer Herrschaftspraxis des Kapitals nur kurzzeitig unterbrochen habe, das seinen Ort eher in Davos, Schauplatz des jährlichen Weltwirtschaftsforums, denn in Washington habe.

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Der Postoperaismus entwickelte sich aus dem sogenannten Operaismus, einem italienischen Marxismus, der das Verhalten der Arbeiterklasse ins Zentrum seiner Überlegungen und Forschungen stellte. Der Postoperaismus bahnte sich in den 70er Jahren an und war als Theorie von den Kämpfen der italienischen Jugend und Jungarbeiter der 60er und 70er Jahre geprägt. Er weiß aufgrund der Erfahrung der Klassenkämpfe in dieser Zeit: Die Arbeitsethik ist recht löchrig. Er bietet eine Beschreibung der kapitalistischen Gesellschaft vor dem Hintergrund sozialer Auseinandersetzungen und kann so Brüche und Prozesse wahrnehmen, die in anderen Spielarten des Marxismus untergehen.

Der am 1. August 1933 in Padua bei Venedig in bäuerlichen Verhältnissen geborene Negri war schon als junger Mann Professor für Staatstheorie. Die Operaisten begannen Anfang der 60er Jahre im Umfeld der Sozialistischen Partei, von der sie sich aber überwiegend distanzierten. Negri gründete 1969 das linksradikale Bündnis Potere Operaio (Arbeitermacht) das zum Parlamentarismus und damit sowohl zur Sozialistischen wie zur Kommunistischen Partei großen Abstand hielt. Davon ausgehend wurde Negri in den 70er Jahren zum Theoretiker der Autonomia: der autonomen Gruppen, die gegen den Attendismus der Traditionslinken darauf bestanden, dass die Formen der antikapitalistischen Selbstermächtigung im Jetzt und Hier zu praktizieren seien. Nach der Entführung und Ermordung von Aldo Moro durch die Roten Brigaden 1978 rief der repressive Staat Negri als deren vermeintlichen Kopf aus. Dafür sollte er 34 Jahre ins Gefängnis, doch er ging nach Frankreich ins Exil. Als er 1997 nach Italien zurückkehrte, wurde er verhaftet, durfte Freigänger im Gefängnis sein, allerdings nicht mehr lehren. Erst 2003 wurde er entlassen.

Negris in den Nullerjahren entwickelter Postoperaismus hat etwas von einem bunten Zauberkasten. Postoperaisten sind mal bessere, mal schlechtere Zauberer, die riesige begriffliche Nebelwände produzieren und alles mögliche in Hüten verschwinden lassen und anderes hervorzaubern. Und Negri war ein großer Zauberer. Er verzauberte deutsche Universitäten, Galerien und Museen – und einige hüllten sich mit seiner Theorie im Ohr in fantasievolle Seuchenanzüge, um an den Orten der vermeintlichen Macht wie in Davos oder Genua zu demonstrieren. Wer erinnert sich noch an die Tute Bianche?

Negri war ein Spieler mit Begriffen, immer locker und nie polemisch. Der Biopolitik-Begriff Foucaults, der eigentlich mit staatlicher Kontrolle und Gouvernementalität verbunden ist, erfuhr bei ihm schlicht eine positive Umkodierung. Biopolitik war bei Negri und Hardt das vielfache Verschwimmen von alten Grenzziehungen wie zwischen Kultur und Natur, das Entstehen neuer Subjektivitäten und ein allgemein gestiegenes Vermögen der Multitude, über das Leben und die produktive Tätigkeit selbst zu verfügen. Auch finden sich neben schöpferischer Verwendung Marxscher Begriffe hanebüchene Verballhornungen Marxscher Intention. Wo Marx den Begriff des Werts ausschließlich für kapitalistischen Gesellschaften benutzte, eine kommunistische Gesellschaft demnach jenseits des Werts liegt, wollten Negri und Hardt gleich eine »neue Werttheorie« entwerfen, die den Widerstand ins Zentrum rückt, weil dieser Wert konstituieren würde. Erst wenn Staat und Kapital nicht mehr »den Widerstand der Multitude, der Arbeitskraft und der gesellschaftlichen Singularitäten in ihrer Gesamtheit im Zaum« halten könnten, »wird es den Wert geben«. Das mochte sich nett lesen, marxistisch ist es nicht.

Der Postoperaismus traf in Deutschland auf eine marxinteressierte Szene, die weitgehend von der sogenannten Wertkritik geprägt war. Zwei Extremformen eines unmarxistischen Marxismus trafen hier aufeinander. In beiden Darstellungsweisen und Theorien fand eine Verschmelzung von Arbeiter und Arbeit statt. Sie sind nicht mehr voneinander getrennt. Bei der Wertkritik ist die Arbeit so verdammenswert wie die Arbeiter, die als mit der Arbeit identisch betrachtet werden und deswegen als »verhausschweint« denunziert wurden, wie vom bereits länger verstorbenen großen Theoretiker der Wertkritik, Robert Kurz.

Der Postoperaismus zeichnet in alter sozialdemokratischer Manier Klasse nicht als zerrissene, potenziell negative Kraft, sondern als gigantische positive Größe. Um die vermeintliche Macht zu objektivieren, werden die Arbeitsformen, mit denen ein kleiner Teil der Multitude betraut ist, als Vorformen oder unmittelbar vorliegendes kommunistisches Vermögen beschrieben. Um dieses zu befreien, müsse die Multitude nur noch die parasitäre äußere Hülle abstreifen, da der Kommunismus bereits als technischer vorhanden sei. Das Leiden – um mit Adorno zu sprechen – oder die Qual und Anstrengung in der Lohnarbeit – um mit Marx zu sprechen – ist aus der Theorie ausgetrieben worden. Die postoperaistische Beschreibung der Wirklichkeit entpuppt sich als Ideologie, wenn man auf den Terror neuer selbständiger Arbeit reflektiert, auf die Situation in Schreibstuben, Webdesignbüros, in der privaten und stationären Pflege oder am heimischen Laptop.

Der Postoperaismus traut seinen eigenen Prophezeiungen jedoch keineswegs. In »Common Wealth« räumten Hardt und Negri deutlich ein, dass man es zurzeit mit schwachen Subjekten zu tun habe. Sie stellten »gerechte und vernünftige Forderungen an die heute herrschenden Mächte«, wie diejenigen nach Grundeinkommen, Grundbildung, globaler Staatsbürgerschaft, Abbau des Privateigentums. Allerdings formulierten sie dies in der Erwartung, dass die Herrschenden darauf nicht eingehen werden. Eine Ausnahme scheint für sie dabei die Forderung nach einem garantierten Mindesteinkommen zu sein, denn dafür erwarteten Negri und Hardt ein Entgegenkommen von herrschender Seite. Das Einkommen von der Arbeit zu trennen, würde jedem mehr Kontrolle über die Zeit ermöglichen und Autonomie über die Zeit sei für das Kapital unabdingbar, »um die Produktivität in der biopolitischen Ökonomie zu befördern«. Doch die Debatten über eine Grundsicherung gehen nicht nur in Deutschland in eine vollkommen andere Richtung.

Andererseits gilt aber: Wo andere aus dem Marxismus und sozialen Kämpfen kommende Autoren angesichts der krisenhaften Welt nur noch im keynesianischen Rahmen verbleiben und an den Staat appellieren, machten Negri und Hardt immer auf den Aufruhr, auf die Jacquerien und deren Potenzial aufmerksam. Da die Empörung und die Revolte nicht hinreichend, aber notwendig sind, brauche es aufrührerische Intersektionen, in denen das Gemeinsame, ebenso wie die Singularitäten anwesend sind. Negris Aufruf zur Befreiung, die zwar von eigener Erfahrung und darauf gründender Identitätspolitik ausgehen müsse, sich darin aber nicht erschöpfen darf, ist genauso klar und deutlich formuliert wie seine Ablehnung Gramscianischer Bündnispolitik, die lauter Identitäten einsammeln und auf eine gemeinsame Plattform stellen will und die damit den Prozess der Selbstbefreiung von festen Identitäten sabotiert. Das war die Leistung von Antonio Negri in den Nullerjahren des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts. Über seine Rolle in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts müssten andere urteilen.

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