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Davidstern im Fensterglas
Die zerbrechliche Sicherheit jüdischen Lebens – Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau besucht Oranienburg
Der Davidstern am Synagogen- und Gemeindezentrum in Oranienburg fällt Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) am Mittwoch sofort ins Auge. Seit Ende der 90er Jahre gehört sie dem Innenausschuss des Parlaments an. Die Gefährdung jüdischer Einrichtungen ist ihr bewusst. Der Davidstern ist ausgerechnet in eine Glasscheibe eingearbeitet. Nur zu leicht könnte ein Neonazi das Glas mit einem Steinwurf zertrümmern.
Die Gemeindevorsitzende Elena Miropolskaja wird immer wieder danach gefragt, warum sie diese Lösung ausgewählt hat. Es sehe einfach schön aus, sagt sie und zuckt mit den Schultern. »Warum soll ich Angst haben?« Wie die Gemeinde mit den Nachbarn auskommt? »Alles gut. Wir fühlen uns sicher«, beteuert Miropolskaja. Sie freut sich, dass die Bundestagsvizepräsidentin zu Besuch ist, und Petra Pau freut sich ihrerseits, dass sie zu Gast sein dürfe. »Das jüdische Leben liegt mir sehr am Herzen«, sagt Pau.
Zwölf jüdische Mitbürger aus Oranienburg wurden einst von den Nazis im Konzentrationslager Ausschwitz ermordet. Der älteste, Herrmann Lewkowitz, war 66 Jahre alt, der jüngste, Sacher Selbiger, erst zwei Jahre. Ein Oranienburger Jude, Siegbert Lewinsohn, starb im KZ Buchenwald und einer, Harry Walter, quasi um die Ecke im zweieinhalb Kilometer entfernten KZ Sachsenhausen.
1997 gründeten 28 Juden, die aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zugewandert waren, in Oranienburg in der Lehnitzstraße 32 wieder eine jüdische Gemeinde. Nach Jahren der provisorischen Unterbringung gibt es für die mittlerweile 225 Juden der Umgebung seit Oktober 2020 das Synagogen- und Gemeindezentrum vier Häuser weiter in der Nummer 36. Dort befand sich früher ein Polizeirevier. Nachdem die Beamten ausgezogen waren, wurde das Gebäude für seinen neuen Zweck saniert und umgestaltet. Der Zentralrat der Juden in Deutschland habe dafür 475 000 Euro gegeben, das brandenburgische Kulturministerium 480 000 Euro und die Stadt Oranienburg 20 000 Euro, rechnet Miropolskaja am Mittwoch vor.
Stolz zeigt sie Pau die Räumlichkeiten, darunter ein großer Saal im Erdgeschoss, ein Büro, eine kleine Bibliothek mit etlichen Büchern in russischer Sprache, ein Spielzimmer für die Kinder, ein Zimmer mit Fitnessgeräten und einem Billardtisch und natürlich der Gebetsraum. Im Thoraschrein fehlt noch das heilige Buch, das für den vorgeschriebenen Ritus mit der Hand geschrieben sein muss. Die Thora ist in Israel bestellt. »Wir beten, dass sie kommt«, erzählt Miropolskaja. Einstweilen steht nur eine gedruckte Thora im Schrein. Die ist aber nicht koscher.
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Die Regeln ihrer Religion haben Miropolskaja und die anderen 14 älteren Juden, die sich zum Treffen mit Bundestagsvizepräsidentin Pau an einer Kuchentafel eingefunden haben, erst als Erwachsene gelernt. Sie stammen alle aus der Sowjetunion – aus Russland, der Ukraine, Moldau und Lettland – und dort lag das jüdische Leben in ihrer Jugend am Boden. Für die Kinder und Enkel ist es auch nicht so leicht. »Leider: Religionsunterricht für unsere Kinder haben wir nicht«, bedauert Miropolskaja. Es gebe an den Schulen lediglich Projekte zum Judentum im Rahmen des christlichen Religionsunterrichts.
Die Herkunft der hiesigen Juden erklärt die russischen Bücher in der Bibliothek. Sie reden untereinander auch alle Russisch. Hinten im Saal stehen einträchtig beieinander die Fähnchen von Deutschland, Israel, der Ukraine und Russland. »Wir sind offen für alle: alle Regionen, alle Länder«, versichert Miropolskaja. Es kommen ihr zufolge auch viele Ukrainer, die nicht jüdischen Glaubens sind.
Das Haus ist ein guter Ort, sich zu treffen. Es hat aber auch einiges gekostet und nun fehlt das Geld für eine dringliche Angelegenheit. Der jüdische Friedhof müsste unbedingt erweitert werden. Denn im Judentum werden Gräber für die Ewigkeit angelegt. Es wird dort nicht immer wieder Platz für neue Bestattungen frei wie auf anderen Friedhöfen. Doch die Bitte, die Stadt möge doch ein anliegendes Grundstück für einen symbolischen Euro abtreten, wurde von den Stadtverordneten abgelehnt – auch und gerade von dem Stadtverordneten Enrico Geißler (Linke). Das erfährt am Mittwoch der Landtagsabgeordnete Andreas Büttner (Linke). Er begleitet Bundestagsvizepräsidentin Pau in Oranienburg gemeinsam mit seinem Fraktionsvorsitzenden Sebastian Walter. Büttner verspricht, die Angelegenheit noch heute in einem Telefongespräch zu klären. Das geht auf dem ganz kurzen Dienstweg, denn Büttner beschäftigt Geißler als seinen Wahlkreismitarbeiter. »Das geht gar nicht«, sind sich Büttner und Walter sofort einig. Der jüdischen Gemeinde eine Fläche für einen Friedhof verwehren, wo doch in Oranienburg im KZ Sachsenhausen einst Juden gequält und getötet worden sind.
Darüber informieren sich Pau, Walter und Büttner anschließend bei einem Rundgang in der KZ-Gedenkstätte. Die stellvertretende Leiterin Astrid Ley führt sie zu den jüdischen Baracken, wo die Politiker Blumen niederlegen. Ley erzählt von den besonders schlimmen Haftbedingungen der Juden in Sachsenhausen und von einem Moment des mutigen Widerstands. Die SS hatte 1942 beschlossen, ganz Deutschland solle »judenfrei« sein. Nicht einmal in den Konzentrationslagern auf Reichsgebiet sollten noch welche leben dürfen. So wurden die jüdischen Häftlinge von Sachsenhausen nach Auschwitz deportiert. Doch 18 jüdische Jugendliche nahmen dies nicht widerspruchslos hin. Sie wussten, dass sie in Auschwitz umgebracht werden sollten. Laut riefen sie in Sachsenhausen über den Appellplatz: »Was soll das? Dann könnt ihr uns doch gleich erschießen?« Astrid Ley nennt es »eine heroische Tat«. Selten wagten es Häftlinge, so mit der SS zu sprechen, die für ihre Brutalität bekannt war.
Gerade auch in Anbetracht der deutschen Geschichte, der Verfolgung und Ermordung der Juden will es der Abgeordnete Büttner »niemals akzeptieren«, dass jüdische Einrichtungen unter Polizeischutz stehen müssen. Solange das erforderlich sei, könnten Juden in der Bundesrepublik nicht normal leben, weiß er. Linksfraktionschef Walter wünscht sich für seinen zweijährigen Sohn, dass dieser einmal mit jüdischen Freunden – selbst ist er kein Jude – die jüdischen Feste feiern kann, ohne dabei von Polizisten geschützt zu werden.
Mit der Frau, die im Gemeindehaus an der Lehnitzstraße neben ihm gesessen hat, ist Walter schnell ins Gespräch und ins Schwärmen gekommen. Die Frau stammt aus St. Petersburg und eine ihrer Töchter lebt noch da. In dieser »sehr schönen Stadt« hat Walter immerhin vier Monate studiert. Im Sommer 2022 wollte er wieder nach St. Petersburg reisen und dort Bekannte besuchen. Der Ukraine-Krieg kam ihm dazwischen. Wie es ihrer Tochter geht, möchte Walter von seiner Sitznachbarin wissen. »Jetzt ist es schwer«, beklagt die Frau. Sie muss nicht extra erklären, dass sie den Krieg meint.
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