Sport für die Massen

Saudi-Arabien wandelt sich rasant. Fußball gewinnt immer mehr an Bedeutung – die Eliten erreichen damit die Jugend

  • Ronny Blaschke, Riad
  • Lesedauer: 9 Min.

Die Fußballfans in Saudi-Arabien sollen sich nicht als Ultras bezeichnen, denn das könnte für den Staat nach Auflehnung klingen. Aber sie wollen sich wie Ultras verhalten, auch vor kurzem beim Derby in der Hauptstadt Riad zwischen Al Hilal und Al Nassr. Es ist das wichtigste Spiel auf der Arabischen Halbinsel. Mehr als 50 000 Menschen sind ins König-Fahd-Stadion gekommen, um den Ersten gegen den Zweiten spielen zu sehen. Die Gesänge der Fans hallen unter dem geschwungenen Zeltdach so laut nach, dass man sich mitunter die Ohren zuhalten möchte.

Al Hilal, gegründet 1957, und Al Nasr, 1955, prägen den Fußball in Saudi-Arabien seit bald sieben Jahrzehnten, doch internationale Aufmerksamkeit erhalten sie erst seit wenigen Monaten – seit der milliardenschweren Sportoffensive im Königreich. Zum Riad-Derby sind auch 45 Journalisten aus dem Ausland angereist. Sie wollen sehen, wie sich die neuen, hoch dotierten hoch dotierten Spieler in der Wüste eingelebt haben: Cristiano Ronaldo und Sadio Mané bei Al Nassr. Oder Aleksandar Mitrović und Kalidou Koulibaly bei Al Hilal, ihr Kollege Neymar ist zurzeit verletzt.

Viele der Reporter bleiben noch ein paar Tage im Land, denn seit Dienstag findet in der Hafenstadt Dschidda die Klub-WM statt. Der europäische Teilnehmer Manchester City, Gewinner der Champions League, trifft am Freitag im Finale auf das Team von Fluminense Rio de Janeiro, das die Copa Libertadores in Südamerika gewonnen hat.

Interessant ist aber auch, was der Fußball abseits des Spielfeldes über Saudi-Arabien aussagt. Rund 70 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 30. Die Öl-Einnahmen werden sinken, und so kann die Monarchie nicht mehr allen Bürgern einen lukrativen Job im Staatswesen anbieten. Saudi-Arabien wird ein wohlhabendes Land bleiben, doch laut Weltbank liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 24 Prozent. Die jüngere Generation kann mit den alten Eliten aus Religion und Stammesnetzwerken immer weniger anfangen. Die Jüngeren wollen sich freier und kreativer entfalten. Aber wie viele Freizügigkeit wird ihnen das Königshaus gestatten?

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Beim Derby in Riad fällt auf, dass die große Mehrheit der Zuschauer kaum älter ist als 30. Nur wenige verfolgen das Spiel im traditionellen Thawb, im weißen, knöchellangen Gewand, das im Stadtbild von Riad sonst allgegenwärtig ist. Eine Fangruppe des Gastgebers Al Hilal bezeichnet sich als »Blue Power«. Sie stehen nicht hinterm Tor wie die europäischen Ultras, sondern auf dem unteren Rang der Haupttribüne. Die jüngsten Zuschauer, viele von ihnen im Schulalter, haben den besten Blick aufs Spielfeld. Auch einige, wenige Frauen sind dabei.

Vor der Tribüne ist ein Plateau aufgebaut. Darauf läuft der Anführer von »Blue Power« energiegeladen hin und her. Er animiert zum Klatschen, stimmt Gesänge an, und Tausende folgen seinen Anweisungen. Als die Mannschaften den Rasen betreten, recken sie blaue und weiße Tücher empor. Ihre Choreografie, über Wochen vorbereitet, überspannt die ganze Tribüne und zeigt das kämpferisch anmutende Gesicht eines Mannes. Dazwischen entzünden Fans Leuchtraketen. Der Rauch vernebelt das Stadion.

Rituale wie diese erinnern an die Ultras in Europa und Lateinamerika. Doch es gibt einen Unterschied, sagt Amer, Anhänger von Al Hilal seit seiner Kindheit. »In Europa bilden die Ultras oft eine Opposition zu ihren Klubs. Bei uns wird ›Blue Power‹ von der Vereinsführung finanziell und organisatorisch unterstützt.« Die Anfeuerungsrufe, die Choreografien, die Leuchtfackeln in der Menschenmenge: Fast alles müssen die Fans mit den Klubs abstimmen. Man kann hier im Kleinen eine Symbolik für etwas Größeres erkennen. Das einst verschlossene Saudi-Arabien will sich öffnen – allerdings unter strenger Kontrolle.

Amer, Anfang 30, möchte seinen richtigen Namen nicht nennen. Er arbeitet bei einem staatsnahen Unternehmen, sagt er, der Fußball sei für ihn Stressbewältigung. Amer hat wie etliche seiner Freunde in den USA studiert, sie sind in der Welt herumgekommen und könnten auch einen Job in New York oder London antreten. Aber sie möchten die Transformation von Saudi-Arabien mitbestimmen. Die neue Stärke im Fußball fördere den saudischen Patriotismus, sagt Amer: »Wir machen das doch nicht nur, um den Westen zu beeindrucken. Wir machen das vor allem für unsere Gesellschaft.«

Amer steht auf der Tribüne und schwenkt seinen blau-weißen Schal von Al Hilal. Wenn beim Gegner Al Nassr Cristiano Ronaldo am Ball ist, dann rufen die Al-Hilal-Fans »Messi, Messi«. Viel mehr an Provokation ist während des Spiels nicht zu hören. Die saudische Fankultur sei weitgehend frei von Gewalt, Aggressionen und Rassismus, sagt Amer. Auch Polizisten in Uniformen sieht man rund um das König-Fahd-Stadion kaum.

Wer als Journalist in Saudi-Arabien ins Gespräch kommen möchte, der weiß, dass bestimmte Themen außen vor bleiben sollten, um die Informanten nicht in Verlegenheit oder gar in Gefahr zu bringen. Was Amer nicht erwähnt: In Saudi-Arabien sind im vergangenen Jahr 196 Menschen hingerichtet worden, die höchste Zahl in drei Jahrzehnten. Viele Aktivisten wurden zu langen Haftstrafen verurteilt. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt der Golfstaat von 180 bewerteten Ländern auf Platz 170. Dieses System schreckt ab und führt dazu, dass die Kriminalität niedrig ist, auch im Fußball.

Die zentrale Figur ist der Kronprinz und De-Facto-Herrscher Mohammed bin Salman. Im Westen gilt er als brutaler Herrscher, der sogar saudische Journalisten wie Jamal Khashoggi ermorden lässt. In Saudi-Arabien beschreiben ihn viele Jüngere als Reformer, der den erzkonservativen wahhabitischen Klerus zurückdrängt und die einst mächtige Religionspolizei entmachtet hat.

Amira zum Beispiel ging für das Studium nach Japan, weil sie den psychischen Druck nicht mehr ertragen konnte. Auch sie möchte ihren richtigen Namen nicht nennen, damit sie freier sprechen kann. Amira, Mitte 30, berichtet über ihre Jugend in den Nullerjahren: Kinos und Konzerte waren in Saudi-Arabien untersagt. Frauen durften kein Auto fahren, mussten separate Eingänge benutzen und benötigten für viele Anliegen die Erlaubnis eines männlichen Vormunds. »Immer wieder wurde ich von der Religionspolizei angehalten und darauf hingewiesen, dass mein Kopftuch verrutscht war«, sagt sie. »Wir haben nicht mal davon geträumt, als Sportlerinnen für unser Land anzutreten.«

Jetzt, Anfang Dezember, nimmt Amira in einem Kampfsport zum zweiten Mal an den »Saudi Games« teil, einem großen Sportfestival, das an mehreren Orten in Riad stattfindet. Ein zentraler Ort ist die »Fan Zone«, ein Campus mit Sporthallen und Plätzen für Beachsoccer und Basketball. Zudem sind Zelte für E-Sports und Filmvorführungen aufgebaut, daneben Imbissstände und eine Konzertbühne. »Der Alltag unserer Mütter und Großmütter spielte sich in geschlossenen Räumen ab«, sagt Amira. »Ich bin froh, dass es jetzt anders ist und ich diesen Wandel miterleben kann.«

Amira hat auf Instagram mehr als 5000 Follower. Sie zeigt sich auf Fotos beim Krafttraining, vor ihrem Spiegel oder beim Kaffeebesuch mit ihrem Hund. Auf keinem davon trägt sie die Abaya, das traditionelle schwarze Überkleid, das in Saudi-Arabien nicht mehr Pflicht ist, aber noch von vielen Frauen getragen wird. Amira sagt, dass sie häufig Nachrichten von Mädchen erhalte, meist gehe es um Ernährungstipps. Sie lebt damit, dass Frauen rechtlich noch immer wesentlich schlechter gestellt sind als Männer in Saudi-Arabien, aber öffentlich reden möchte sie darüber nicht.

Frauen wie Amira dürften beim Kronprinzen hoch im Kurs stehen, denn sie irritieren die westlichen Vorstellungen von der unterdrückten saudischen Frau. Und sie lassen sich in die nationale Erzählung einspannen. Für eine Zukunft ohne Öl ist Saudi-Arabien nicht nur auf neue Wirtschaftszweige angewiesen, sondern auch auf eine produktive und vielseitig ausgebildete Belegschaft. 1990 waren nur elf Prozent der Frauen in Saudi-Arabien erwerbstätig. 2019, nach der Aufhebung des Fahrverbots für Frauen, sollen es 18 Prozent gewesen sein, mittlerweile 35 Prozent. Auch der saudische Fußballverband hat inzwischen Frauenteams und eine Vizepräsidentin. Amira, die Medizin studiert hat, sieht ihre Zukunft nun in Saudi-Arabien.

In den kommenden zehn Jahren könnte die Bevölkerung des Wüstenstaates von 36 auf 41 Millionen wachsen. Jedes Jahr drängen mehr als 250 000 Menschen auf den Arbeitsmarkt. Auch bei flüchtigen Gesprächen kann man in Riad schnell kritische Stimmen hören, die sich über teure Mieten oder den schlechten Nahverkehr auslassen. Die Eröffnung der Metro, seit 2014 im Bau, wurde immer wieder verschoben. Es sind Themen, mit denen man dem Kronprinzen nicht zu nahe tritt, denn die Versäumnisse liegen bei dessen Vorgängern.

Zur »Saudi Vision 2030« gehören milliardenschwere Investitionen in Fußballer, Golfprofis oder Formel-1-Rennen, schreibt der Islamwissenschaftler Sebastian Sons in seinem Buch »Die neuen Herrscher am Golf«. Überdies will »die saudische Regierung eine einheimische Sportindustrie aufbauen, die Jobs für junge Menschen schafft und neue Attraktionen bietet«. Bei der Planung von Städten und Freizeitzentren sollen Sportanlagen eine wichtige Rolle spielen. Bis 2030 sollen jährlich 100 Millionen Touristen ins Land kommen, fünfmal so viele wie im vergangenen Jahr.

Naif findet diese Pläne beeindruckend, aber ob die Gesellschaft so reformbereit ist wie die Regierung, da ist er sich nicht sicher. Naif, Anfang 30, hat während des Studiums das Laufen für sich entdeckt, inzwischen hat er fünf Marathons bestritten. Er steuert sein Auto durch den Norden von Riad. Achtspurige Autobahnen, glitzernde Bürotürme, riesige Einkaufszentren. Aber weit und breit keine Fahrradwege, Grünflächen und Anlagen für Freizeitsport. »Ich wurde von Fremden mehrfach kritisiert, weil ich mit kurzer Hose durch die Stadt gelaufen bin und angeblich zu viel Haut gezeigt habe«, erzählt Naif.

Im Februar wird in Riad zum dritten Mal ein Marathon ausgetragen, wieder mit mehr als 10 000 Teilnehmenden. Jedes Mal, sagt Naif, werde ein bisschen mehr über Bewegung gesprochen, über Gesundheitsförderung und womöglich auch über den Mangel an Sportlehrern. Fast 20 Prozent der Bevölkerung in Saudi-Arabien leben mit Diabetes, mehr als 50 Prozent mit Übergewicht. Die Regierung möchte die Zahl der Menschen, die mindestens einmal pro Woche Sport treiben, bis 2030 von 13 auf 40 Prozent steigern. »Das würde das Gesundheitssystem entlasten«, sagt Naif. »Und die wirtschaftliche Produktivität stärken.« Solange diese Produktivität wächst und den Wohlstand sichert, so lange ist wohl auch die Stabilität der Monarchie gesichert.

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