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Evelyn Richter in Leipzig: Schiefe Nasen und Dekadenz
Eine Leipziger Ausstellung zeigt das Werk der Fotografin Evelyn Richter und entkräftet dabei den Mythos vom genialischen Einzelkünstler
Manchmal schmerzt Kritik sehr. Etwa dann, wenn eine mühsam aufrechterhaltene Idealvorstellung dadurch mit einem Schlag vernichtet wird. Manchmal erbaut sie aber auch. Zum Beispiel, wenn sie den Kritiker mehr entblößt als einen selbst, der oder die Zielscheibe der Kritik war – und man ahnt, dass man sich auf dem richtigen Pfad befindet.
Die vor zwei Jahren verstorbene Fotografin Evelyn Richter konnte wohl ein Lied davon singen. »Dass Sie einen Menschen mit einer schiefen Nase fotografieren, ist typisch für Ihre dekadente Einstellung«, bekam sie einst von einer Lehrkraft der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig zu hören, wo sie im Jahr 1953 ein Studium der Fotografik begonnen hatte. Schiefe Nasen und Dekadenz, das sollte es in der fantastischen Wunderwelt des Sozialistischen Realismus nur in der BRD geben. Kurze Zeit später wurde Richter dann unter heute fadenscheinig wirkenden Argumenten exmatrikuliert.
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Dass dies nicht das Ende, sondern erst der Beginn ihrer Laufbahn als Fotografin war, davon zeugt die Ausstellung »Evelyn Richter. Ein Fotografinnenleben« im Leipziger Museum der bildenden Künste (MdbK). Die Werke, die hier zu sehen sind, zeigen die 1930 als Kind einer bürgerlichen Familie in Bautzen geborene Richter als vielgestaltige Künstlerin und versierte Theoretikerin, die das Handwerk der Fotojournalistin ebenso beherrschte wie das der Buchillustratorin.
Es waren, so scheint es, die Exmatrikulation von der Hochschule und damit auch der Ausschluss vom staatssozialistischen Mainstream, die der Fotografin die notwendige künstlerische Freiheit verschafften. Fortan bewegte Richter sich als Freiberuflerin in Nischen und entschied selbst, welche Aufträge sie annahm und welche nicht. In den Folgejahren arbeitete sie für verschiedene Theater, die Presse, Buchverlage oder namhafte Institutionen wie das Gewandhaus oder die Leipziger Messe. Erst als sie eine national wie international etablierte und respektierte Fotografin war, wurde ihr rückwirkend – fast 30 Jahre nach ihrem Ausschluss – von der HGB das staatliche Diplom verliehen.
Die Ausstellung im MdbK ist in vier Teile gegliedert: Im ersten Teil werden Selbstporträts Richters ausgestellt, die zumeist auf Reisen und in spontan erscheinenden Momenten entstanden – ein Hauch vom Social-Media-Zeitalter umweht die Arbeiten, die größtenteils weit vor der Massenverbreitung des Internets entstanden. Darauf folgen im zweiten Teil Arbeiten aus verschiedenen Fotobüchern, an denen die Künstlerin beteiligt war.
Der dritte Teil der Ausstellung widmet sich ihren fotojournalistischen Arbeiten, im vierten werden unter dem schlichten Titel »Freundinnen« die Werke ihrer engen Weggefährtinnen Eva Wagner-Zimmermann, Ursula Arnold sowie Christa Sammler beleuchtet, mit denen Richter über viele Jahre in engem künstlerischen Austausch stand. Es scheint ein Anliegen der Schau zu sein, die Verwobenheit der Künstlerin mit ihrem privaten und beruflichen Umfeld zu dokumentieren, um somit die nach wie vor präsente Vorstellung vom (zumeist männlichen) genialischen Einzelkünstler zu entkräften – und dies gelingt. Die ausgestellten Werke rücken hier das auf sozialem Austausch basierende künstlerische Wirken in den Mittelpunkt.
Unabhängig vom konkreten Kontext und Ursprung zeugen die im MdbK ausgestellten Arbeiten von einem genauen, unvoreingenommenen Blick Richters für ihre Umgebung und von einer großen Neugierde. Ihr breit gefächertes Werk lässt sich am ehesten dem sozialdokumentarischen Genre zuordnen – und doch wäre es zu einfach zu sagen, dass Richters Bilder einem strengen Paradigma des Realismus folgen würden. Dafür sind ihre Bilder zu ästhetisiert und mitunter komponiert, zu sehr von Inszenierungen und perfekt scheinenden Fotomomenten geprägt. Somit changieren ihre Arbeiten stets zwischen Realität und Inszenierung, Dokumentarismus und bewusst hervorgerufener Ästhetik. Je länger man sich in ihren Bildern verliert, desto mehr scheinen die Grenzen zwischen beiden Polen zu verschwimmen.
Die Ausstellung verknüpft dabei an vielen Stellen die Werke der 2021 verstorbenen Fotografin mit biografischen Eckpfeilern und Informationen, ohne dass diese sich aufdrängen oder den Blick auf die Fotografien verstellen. Insgesamt zeugt die Schau vom unerschöpflichen Tatendrang einer Künstlerin, deren Arbeiten nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Unbeugsamkeit auch heute noch von Relevanz sind.
»Evelyn Richter. Ein Fotografinnenleben«, bis zum 17. März 2024, Museum der bildenden Künste Leipzig.
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