»Gut auf sich zu achten, ist ganz wichtig«

Cornelia Heyken ist digitale Streetworkerin und Mutter einer Tochter mit Rett-Syndrom

Die Erziehunsgwissenschaftlerin und digitale Streetworkerin Cornelia Heyken.
Die Erziehunsgwissenschaftlerin und digitale Streetworkerin Cornelia Heyken.

Frau Heyken, wie lange ist Ihre tägliche Bildschirmzeit?

Dadurch, dass ich im Homeoffice bin, schätze ich meine Zeit am Rechner so auf acht, neun Stunden. Und am Handy zusätzlich etwa vier. Wobei ich dazu sagen muss, dass ich schon wirklich viel am Handy mache, also weniger daddeln, als tatsächlich arbeiten. Sowohl für meine Lohnarbeit als auch für das ehrenamtliche Engagement. Die Freizeit am Handy würde ich vielleicht auf eine Stunde am Tag schätzen.

Was ist der Inhalt der beiden Projekte, für die Sie bei der Amadeu-Antonio-Stiftung arbeiten?

Im Projekt »Good Gaming« arbeiten vier Kolleg*innen und ich mit Gaming-Communities, Influencer*innen und Streamer*innen zusammen, um rassistischen, antisemitischen und menschenfeindlichen Einstellungen und Aussagen in Gaming-Communities etwas entgegenzusetzen. Mein Schwerpunkt dort ist Digital Streetwork. Im Projekt »Firewall« haben Kolleg*innen und ich rund 100 Trainer*innen mit eigens entworfenen Bildungsmaterialien ausgebildet, die nun bundesweit (medienpädagogische) Workshops zu digitalen Themen geben, insbesondere zum Umgang mit diskriminierenden Inhalten im Internet. Leider ist das Projekt den Haushaltskürzungen zum Opfer gefallen, ein fatales Zeichen. Das Trainer*innennetzwerk bleibt aber weiterhin aktiv.

Interview

Cornelia Heyken ist Erziehungswissenschaftlerin und lebt in Brandenburg. Sie arbeitet in den Projekten »Good Gaming« und »Firewall« der Amadeu-Antonio-Stiftung und engagiert sich ehrenamtlich für Kinder mit dem Rett-Syndrom.

Wie muss man sich digitale Streetwork vorstellen?

Es handelt sich tatsächlich um aufsuchende Jugendsozialarbeit im Internet, für Jugendliche und junge Menschen bis 27. Mein Kollege ist dafür auf allen möglichen Plattformen unterwegs, die irgendwie einen Gaming-Bezug haben. Sehr aktiv ist er etwa auf der Streaming-Plattform Twitch, teilweise auch auf Instagram und Youtube, bei Letzteren dann vorrangig in den Kommentarspalten.

Wie sind die Reaktionen? Kommt man sich manchmal ein bisschen wie der Streber auf dem Schulhof vor, der zur Einhaltung der Schulordnung mahnt?

Klar stößt man auch immer wieder auf Gegenwehr. Dann heißt es: »Boah, jetzt kommen diese woken Leute wieder und wollen uns auch noch unser Game wegnehmen.« Zum viel größeren Teil wird es aber dankbar angenommen. Man sieht das daran, dass wir unglaublich viele Anfragen bekommen. Mein Kollege fragt sich schon hin und wieder mal, was es überhaupt bringt, wenn er alleine als kleiner Digital Streetworker unterwegs ist. Aber dazu muss man auch wissen, dass er im Großen betrachtet alles andere als alleine und dieser Ansatz mittlerweile sehr verbreitet ist. Es gibt viele kleinere und größere Projekte, die mit dem Ansatz arbeiten.

Wie haben Sie zu diesem Arbeitsfeld gefunden?

Ich habe Erziehungswissenschaften studiert und nebenbei zwischen 2006 und 2011 im sogenannten Extremismus-Team der VZ-Netzwerke gearbeitet – also SchülerVZ und StudiVZ. Darüber habe ich dann am Ende auch meine Magisterarbeit geschrieben. Aus meiner Zeit bei den VZ-Netzwerken hatte ich viel Materialien gesammelt, ausgewertet und daraus dann eine explorative Fallstudie zum Thema »Rechte Inhalte auf Online-Plattformen« gemacht.

Sie haben auch noch eine vier Jahre alte, schwerbehinderte Tochter mit dem Rett-Syndrom. Was bedeutet das für Ihren Alltag?

In erster Linie bedeutet es extrem viel Organisation für meinen Mann und mich. Wir arbeiten beide fast Vollzeit, da muss man schon extrem gut strukturiert sein. Meine Tochter hat vier Therapien die Woche. Das bedeutet, dass wir morgens vor der Kita mit ihr zur Therapie gehen und nachmittags nach der Kita – und das mehrmals die Woche. Und dann haben wir ja auch noch einen achtjährigen Sohn, der von Logopädie bis zum Schwimmunterricht seine eigenen festen Termine hat. Wenn mein Mann und ich nicht beide im Homeoffice wären und jeden Tag zur Arbeit führen, müssten wir entweder Stunden reduzieren, nachts arbeiten oder Therapien für unsere Tochter streichen.

Welche Beeinträchtigungen gehen mit dem Rett-Syndrom einher?

Meine Tochter ist zu 100 Prozent eingeschränkt. Es gibt Kinder, die sind schwerer, und welche, die sind leichter betroffen. Meine Tochter hat wirklich alle typischen Symptome – außer Epilepsie, das hat sie noch nicht. Aber sie kann nicht alleine sitzen, nicht laufen, nicht stehen und auch nicht alleine essen. Auch einen Spracherwerb hat sie nicht.

Wie kommunizieren Sie miteinander?

Bisher über Emotionen. Also, wir müssen sie lesen, das ist unglaublich schwierig. Wenn ihr irgendetwas wehtut, dann weint sie natürlich und gibt Laute von sich. Eigentlich ist es wie bei einem Baby. Gleichzeitig sieht man ihr aber auch an, wenn sie irgendetwas total toll findet. Also, sie ist sehr ausdrucksstark in den Augen. Das ist etwas Besonderes bei vielen Rett-Kindern, dass sie sehr stark über die Augen kommunizieren. Aber natürlich ist es schon anstrengend, wenn man nicht weiß, ob sie gerade Schmerzen hat oder wie viel sie eigentlich kognitiv versteht. All das können wir überhaupt nicht messen.

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Und wie ist der gesellschaftliche Umgang?

Das Rett-Syndrom an sich ist nicht so bekannt, weil es extrem selten ist. In Deutschland gibt es vielleicht 5000 Menschen, bei denen es nachgewiesen ist. In vielen Bereichen ist der Umgang okay, aber häufig ist es auch sehr herausfordernd, gerade weil wir uns oft erklären müssen. Da fühlt man sich dann immer ein bisschen wie Bittsteller*innen. Dabei wollen wir im Prinzip für unsere Tochter »nur«, dass sie ganz normal am Alltag teilhat. Dafür ist bei ihr aber extrem viel notwendig. Alleine die Kommunikation mit Krankenkassen, Ämtern, Jugendamt bedeutet bei Menschen mit Beeinträchtigungen oder mit starken Beeinträchtigungen schon fast einen 30-Stunden-Job, den man als pflegende Eltern noch nebenbei macht.

Wo nehmen Sie die ganze Kraft, Energie und Zeit dafür her?

Das frage ich mich auch manchmal. Ich glaube, das geht nur, weil wir uns schon sehr früh ein sehr großes Netzwerk aufgebaut haben. Unabhängig von der späteren Rett-Diagnose war es eine sehr komplizierte Geburt und meine Tochter lag danach noch lange auf der Intensivstation. Dementsprechend haben wir schon damals begonnen, uns Hilfe zu holen, einfach weil wir nie wussten, wie es mit ihr irgendwann einmal sein wird. Was auch hilft: Mein Schwager ist Kinder- und Jugendpsychiater, außerdem haben mein Mann und ich beide viele Geschwister. Die waren von Anfang an sehr unterstützend und sind es immer noch. Meine Schwestern zum Beispiel sind sehr geschult, was den Umgang mit unserer Tochter angeht. Sie können beide sehr gut mit ihr umgehen, sie wissen genau Bescheid, sie können sie pflegen und alles – und dementsprechend auch mal kurzfristig einspringen. Ich wusste lange nicht, dass diese Form der Unterstützung auch von der Krankenkasse finanziert wird. Das ist ganz praktisch, damit es nicht immer nur so eine Familienleistung bleibt.

Ehrenamtlich engagieren Sie sich noch beim Verein Rett e.V. Was machen Sie da?

Dort bin ich stellvertretende Vorsitzende des Nordost-Verbands. Als Elternhilfe sind wir darauf ausgelegt, zu unterstützen, zu beraten und Wissen weiterzugeben. Gerade unmittelbar nach einer Rett-Diagnose tauchen bei Eltern tausend Fragezeichen auf. Über das Jahr verteilt bieten wir auch immer wieder Wochenendtreffen an, an denen Rett-Familien mit ihren Kindern zusammenkommen und sich austauschen können. Wenn die Eltern Mitglied sind, wird die Teilnahme vom Verein finanziert.

Haben Sie noch einen Rat für betroffene Eltern?

Gut auf sich achten und sich auch mal Auszeiten nehmen, das ist ganz wichtig. Noch wichtiger ist aber: sich immer professionelle Hilfe holen! Sei es Psycho-, Verhaltenstherapie oder Ähnliches. Einfach alles tun, um selbst gesund zu bleiben. Denn niemand muss das Gefühl haben, sich alleine um alles kümmern zu müssen.

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