Chile: »Zumindest hat die Rechte verloren«

Kommunikationswissenschaftler Leonel Yañez Uribe über das chilenische Verfassungsreferendum und seine Folgen für die Mitte-links-Regierung

  • Interview: Ute Löhning
  • Lesedauer: 6 Min.

Bei dem Referendum am vergangenen Sonntag hat die Mehrheit der Chilen:innen zum zweiten Mal einen Entwurf für eine neue Verfassung abgelehnt. Dieses Mal ging es um einen erzkonservativen Vorschlag, den ein Verfassungsrat mit einer rechten Mehrheit ausgearbeitet hatte. Wie waren die Ergebnisse?

Mit dem neuen Verfassungsvorschlag wollte die Rechte die Ursprünge der Verfassung aus der Zeit der Diktatur Pinochets bekräftigen und nochmals verstärken. Genau dagegen haben nun etwa 56 Prozent gestimmt. 44 Prozent waren dafür. Nur in drei Regionen im Süden Chiles und in den drei reichsten Bezirken Santiagos hat die Mehrheit für den neuen Verfassungsentwurf gestimmt. In allen anderen Kommunen wurde er abgelehnt. Die Wahlbeteiligung lag bei 84 Prozent. Es war eine verpflichtende Abstimmung, so wie auch alle folgenden Wahlen verpflichtend sein werden.

Chile behält nun die alte Verfassung aus der Zeit der Diktatur von 1973 bis 1990. Die Protestbewegung von 2019 wollte diese durch eine demokratischere ersetzen. Das ist nicht gelungen. Ist es für die Linke ein Erfolg, dass der neue Vorschlag nun auch abgelehnt worden ist?

Niemand bezeichnet das Ergebnis als Erfolg. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei (PC), Lautaro Carmona, und der Kongress-Abgeordnete der Frente Amplio, Gonzalo Winter, haben bei einer Diskussion übereinstimmend gesagt: »Wir sehen uns nicht als Gewinner. Sicher ist nur, dass die Rechte verloren hat.« Denn diese hatte gedacht, sie würde deutlich gewinnen und könne Chile neu begründen im Sinne des Pinochetismus und der neoliberalen Doktrin Jaime Guzmáns, dem intellektuellen Kopf der Verfassung von 1980. Das hatte die Linke befürchtet, aber es ist nicht eingetreten.

Die aktuell gültige, 1980 verabschiedete Verfassung ist bis heute nicht demokratisch legitimiert. Allerdings ist sie ab den 1990er Jahren einige Male reformiert worden. Wie weit gingen diese Reformen und warum wäre eine demokratischere Verfassung dennoch so wichtig?

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Zentrale Elemente der von Guzmán beschriebenen Selbstdefinition Chiles gelten trotz der Reformen bis heute unverändert. Der Staat ist noch immer als »subsidiärer Staat« definiert, also als gegenüber Markt und Gesellschaft nachrangige Instanz. Immer wenn ein Gesetz oder eine Bestimmung dieses Prinzip in Frage stellt, erklärt das Verfassungsgericht diese für nicht verfassungskonform. Daraus folgt, dass auch die Systeme der Daseinsvorsorge, also die Sozialsysteme, über den Markt geregelt werden. Zum Beispiel gilt immer noch, dass eine gute Gesundheitsversorgung oder andere Dienste nur bekommt, wer genug Geld hat. Außerdem sind Dienstleistungen und natürliche Ressourcen, sogar Strom und Wasser, bis heute privatisiert. Dieser Kern der 1980er Verfassung ist trotz einiger Reformen erhalten geblieben. Meiner Meinung nach, richtet sich die Ablehnung in dem Referendum genau gegen diese ursprüngliche Vision des pinochetistischen Projekts, für das inzwischen Kast steht.

José Antonio Kast ist der Gründer und Vorsitzende der extrem rechten Republikanischen Partei, die bei den Wahlen zum Verfassungsrat im Mai 2023 ein Drittel der Stimmen erhalten und den Verfassungsentwurf sehr stark geprägt hat. Was gab denn jetzt den Ausschlag, dass die Mehrheit dagegen gestimmt hat?

Zum einen ging es um eine Art Kulturkampf, besonders um die Rechte von Frauen. Die sind bei Wahlen in Chile immer ein wichtiger Faktor, und in dieser Hinsicht waren die Verfassungsbefürworter kommunikativ nicht gut aufgestellt. Die Frauen haben sich zum wiederholten Mal dafür stark gemacht, dass ihre Rechte, die sie nach harten Kämpfen in Gesetzen verankert haben, nicht abgeschwächt werden.

… zum Beispiel durch eine im Verfassungsentwurf enthaltene Formulierung zum Schutz des Lebens von der Zeugung bis zum Tod, die es möglich gemacht hätte, Abtreibungen ohne jede Ausnahmeregelung wieder komplett zu verbieten.

Zum anderen hat die Rechte auch auf das Thema Sicherheit gesetzt. Aber nun sind in den vergangenen Tagen viele Skandale aufgeflogen. Laut Medienberichten haben etwa 50 Unternehmer teilweise seit mehr als zehn Jahren Steuern in großem Stil hinterzogen. Darunter waren mehrere Mitglieder der Republikanischen Partei. Diejenigen, die viel Geld haben, halten sich nicht an die Regeln, es ist eine Art korrupte Kaste. Außerdem sollte das System der privaten Rentenfonds (AFP) im neuen Verfassungsentwurf verankert werden. In Chile wissen alle Menschen, unabhängig von ihrer politischen Einstellung, was das bedeutet – die Proteste gegen die privaten Pensionsfonds gehörten zu den größsten der chilenischen Geschichte. Die Menschen wollen doch ein Mindestmaß an sozialer Absicherung! Das waren die Themen, die in der Öffentlichkeit präsent waren und die zehn bis 15 Prozent der Menschen angesprochen haben, die in Sachen Verfassungsreferendum bis dahin unentschieden gewesen waren.

Beim Referendum 2022 war die Medienstrategie der Rechten aufgegangen. Warum dieses Mal nicht – obwohl die Rechte abermals sehr viel mehr Geld für ihre Kampagne zur Verfügung hatte als die Linken? Rund 99 Prozent der Wahlkampfspenden sind an rechte Parteien geflossen.

Viele Menschen stimmen gegen die politische Klasse, und dieses Mal hat es sich gegen die Rechte gerichtet, vielleicht weil viele rechte Politiker so offensiv in der Öffentlichkeit aufgetreten sind. So hat der Ex-Präsident Sebastián Piñera dazu aufgerufen, für den neuen Verfassungstext zu stimmen. Außerdem war die Kampagne für die neue Verfassung auch sehr agressiv. Im TV-Werbespot hieß es »Que se jodan« (»Zur Hölle mit euch«) an die Adresse jener, die zur Ablehnung der neuen rechten Verfassung aufriefen. Das ist bei vielen Leuten nicht gut angekommen.

Was sagt das über die politischen Konstellationen und Kräfteverhältnisse?

Zunächst mal ist das ein politisches Machtwort der Bevölkerung, woraus klar wird, dass sie sich nicht grundsätzlich nach rechts gewendet hat. Chile ist nicht mehr so stark politisiert, die politische Beteiligung ist nicht vergleichbar mit der Zeit der Revolte. Die sozialen Bewegungen sind nicht mehr so stark. Chile steht nicht links, es ist nicht mehr das Land der Unidad Popular von Salvador Allende. Nur etwa ein Drittel ist links ausgerichtet, ein weiteres Drittel ist rechts und antidemokratisch. Dazwischen sind viele Menschen, die keine klar definierte Position vertreten und auf wirksame politische Reformen hoffen.

Präsident Gabriel Boric hat angekündigt, dass es keinen dritten Anlauf im Verfassungsprozess geben wird. Wie geht es nun weiter? Was bedeutet das Referendum für die zukünftige Politik der Mitte-Links-Regierung?

Das Referendum wurde auch zu einem möglichen Votum gegen die aktuelle Regierung stilisiert. Hätte die neue Verfassung gewonnen, wäre Boric zum Rücktritt aufgefordert worden. Nun ist er etwas stabilisiert und hat angekündigt, sich in den kommenden zwei Jahren seiner Antszeit verstärkt um soziale Reformen zu kümmern. Beschlossen ist bereits das Gesetz über eine garantierte Grundrente mit Zuzahlungen für diejenigen, die niedrige Renten erhalten. Weitergehende Reformen des Renten- und des Gesundheitssystems sind geplant. Um das zu finanzieren, arbeitet die Regierung an einer Steuerreform, die Spitzensteuersätze sollen erhöht werden. Das Ergebnis des Referendums zeigt, dass das Land nicht rechts steht, und dass die politischen Lager Vereinbarungen treffen und Probleme lösen müssen. Denn die Ursachen für die Revolte vom Herbst 2019 sind bis heute nicht gelöst.

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