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»Deutsche Befindlichkeiten stehen wie immer im Mittelpunkt«

Emilia Roig, Candice Breitz und Tomer Dotan-Dreyfus über Anti- und Philosemitismus in der deutschen Debatte nach dem 7. Oktober

  • Emilia Roig, Candice Breitz und Tomer Dotan-Dreyfus
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Emilia Roig (links), Candice Breitz und Tomer Dotan-Dreyfus sprachen bei der Veranstaltung »Jüdischsein im antisemitischen und philosemitischen Klima Deutschlands« über die deutsche Antisemitismus-Debatte nach dem 7. Oktober.
Emilia Roig (links), Candice Breitz und Tomer Dotan-Dreyfus sprachen bei der Veranstaltung »Jüdischsein im antisemitischen und philosemitischen Klima Deutschlands« über die deutsche Antisemitismus-Debatte nach dem 7. Oktober.

Der Schmerz von Jüdinnen und Juden seit dem 7. Oktober hat im deutschen Diskurs einen zentralen Platz eingenommen. Doch das habe weniger mit wirklicher Sorge um jüdisches Leben als mit der Förderung des deutschen Selbstbildes als Land der Shoah-Aufarbeitung zu tun, kritisieren die drei in Berlin lebenden jüdischen Intellektuellen Emilia Roig, Candice Breitz und Tomer Dotan-Dreyfus. Dieser Beitrag ist ein kleiner Ausschnitt einer Veranstaltung, die unter dem Titel »Jüdischsein im antisemitischen und philosemitischen Klima Deutschlands« am 9. Dezember in Berlin stattfand. Das gesamte auf Englisch geführte Gespräch ist auf Youtube zu finden.

Candice Breitz: Viele von uns Juden und Jüdinnen, die sich solidarisch mit Palästinenser*innen zeigen, sind in den vergangenen Wochen wieder verstärkt in Deutschland diskursiver Gewalt ausgesetzt. Uns wird fälschlicherweise Antisemitismus vorgeworfen, wir werden durch die deutschen Leitmedien diffamiert und ausgegrenzt. Diese Form von Gewalt wird interessanterweise nicht als Antisemitismus verurteilt.  

Emilia Roig: Es wird deshalb nicht als Antisemitismus betrachtet, weil es jüdische Menschen betrifft, die in die deutsche Vorstellung von Jüdischsein nicht reinpassen. Die jüdische Identität bleibt in deutschen Vorstellungen gefangen. Ich sehe darin eine Fortsetzung des tief verwurzelten deutschen Antisemitismus, der jüdische Stimmen einkapselt und kontrolliert und ihnen die Vielfalt und Heterogenität der jüdischen Identität abspricht und unterbindet, um sie zu politischen und ideologischen Zwecken zu instrumentalisieren. Der jüdischen Gemeinschaft wird in Deutschland nicht gestattet, eine plurale, heterogene Gemeinschaft mit ihren eigenen Spannungen und Meinungsverschiedenheiten zu sein, die nicht von einer einzigen politischen Stimme vertreten wird. Das ist antisemitisch.

Kritik am Zionismus als ethnonationalistische Bewegung, die nach einem israelischen Staat in Palästina strebt, wird in Deutschland als eindeutig antisemitisch eingestuft. Das ist eine sehr gefährliche Abkürzung. Das Judentum, eine 4000 Jahre alte Religion und Kultur, ist viel reichhaltiger, als die zionistische Bewegung uns glauben machen will. Der Zionismus ist kein integraler Bestandteil des Judentums, sondern eine Ideologie des 20. Jahrhunderts, die von einer Minderheit einflussreicher aschkenasischer Juden vorangetrieben und von westlichen Großmächten unterstützt wurde. Jeder Versuch, den Zionismus mit dem Judentum gleichzusetzen, ist zutiefst antisemitisch.

Tomer Dotan-Dreyfus: Das Problem ist, dass es überhaupt erst eine einheitliche Vorstellung von dem gibt, was ein »Jude« ist – und was er oder sie denken soll. Es ist nicht zu glauben, wie oft Menschen versuchen, sich mit mir anzufreunden, indem sie mir irgendeinen islamophoben Witz erzählen. Man dachte – tja, wodurch kann ich den israelischen Juden beeindrucken? Und das war traurigerweise das Ergebnis.

Dadurch, dass es in Deutschland ein so enges Bild von Juden gibt, wird auch der Diskurs so verengt, dass Stimmen von Juden, die in dieses Bild nicht reinpassen, weil sie etwa den israelischen Staat kritisieren, nicht gehört werden wollen oder sogar mundtot gemacht werden, wie es in den vergangenen Wochen immer wieder passiert ist.

Und dann gibt es noch die Stimmen, die uns aufgrund unserer Positionalität das Sprechen verbieten wollen. Oft höre ich von Deutschen und deutschen Jüdinnen und Juden, dass ich in dieser Diskussion nicht teilnehmen kann, weil ich hier nicht aufgewachsen bin. Ich bin in Israel aufgewachsen. Die Diskussion dreht sich ja auch um Israel. Wenn wir Menschen Sprechrechte aufgrund ihrer Sozialisierung verteilen, sollten wir Israelis die ersten sein, die da sprechen dürfen. Aber es geht nicht um Sprechrechte – es geht hier, wie immer, um deutsche Sensibilitäten. Als wäre der Holocaust den Deutschen angetan und nicht andersrum, müssen wir Jüdinnen und Juden ihren Sensibilitäten berücksichtigen.

Gespräch
  • Emilia Roig ist eine französische Bestsellerautorin und Expertin für Intersektionalität und postkoloniale Theorie.
  • Candice Breitz ist eine südafrikanische Künstlerin. Ihre Videoinstallationen werden international gezeigt.
  • Tomer Dotan-Dreyfus ist ein israelischer Autor und Übersetzer. Sein Debütroman »Birobidschan« erschien dieses Jahr im Voland & Quist Verlag.

    Breitz: Jede jüdische Person in Deutschland hat sicherlich die Erfahrung gemacht, von nichtjüdischen Deutschen fetischisiert zu werden. In den letzten paar Jahrzehnten blühte ein Philosemitismus auf, der leider oft auf alten antisemitischen Stereotypen basierte, nun aber mit eindimensionalen Bildern von Juden und Jüdinnen als die ewigen Opfer kombiniert wird. Die Fixierung von jüdischen Menschen als ewige Opfer in einer festen, zeitlosen und universellen Position macht es unmöglich, sie jemals als Täter*innen zu sehen. 

    Beim Diskurs über Antisemitismus in Deutschland geht es viel zu oft weniger um jüdische Sicherheit als um deutsche Gefühle. Wir, jüdische Menschen, müssen aufpassen, die Gefühle derjenigen nicht zu verletzen, die unsere Vorfahren ermordet haben. Diese Täter-Opfer-Umkehrung ist zutiefst verstörend, dennoch meistens akzeptiert.

    Viele deutsche Philosemit*innen behaupten, den israelischen Staat und jüdische Menschen bedingungslos zu lieben und um jeden Preis schützen zu wollen – im Namen der sechs Millionen jüdischen Opfer des Nazi-Genozids. Diese Rhetorik wird dann als Waffe gegen alle eingesetzt, die sich kritisch gegenüber der rechten israelischen Regierung äußern.

    Rassistische und islamfeindliche Gewalt, Diffamierung und Unterdrückung nicht-zionistischer Stimmen finden allzu oft unter dem Deckmantel des Philosemitismus statt. Für diejenigen, die sich kritisch gegenüber Netanjahus Regierung stellen, herrscht oft eine allgemeine Schuldvermutung von Antisemitismus vor. Man sollte meinen, dass in einem Land, in dem über 80 Prozent aller antisemitischen Straftaten durch weiße Ethnonationalist*innen und Neonazis verübt werden, der Kampf gegen den Antisemitismus in erster Linie auf weiße Deutsche gerichtet sein sollte. Dem ist aber nicht so. Stattdessen wird regelmäßig behauptet, Antisemitismus »verstecke« sich in linken intellektuellen Kreisen und sei zu einem großen Teil in der muslimischen Bevölkerung zu finden.

    Hubert Aiwanger, dessen Popularität explodierte, nachdem er als Antisemit entlarvt wurde, wird in Ruhe gelassen, während angeblicher Antisemitismus bei Menschen proklamiert wird, die humanitäre Positionen verteidigen und die Tötungen von Zivilist*innen in Gaza kritisieren. Wenn jede Solidarität für die palästinensische Zivilgesellschaft als Antisemitismus eingestuft wird, wird es praktisch unmöglich, dort für Gerechtigkeit einzutreten.

    Roig: Deutschland erfand sogar den Begriff des »importierten Antisemitismus«, um sich von seinem tief verwurzelten Antisemitismus freizusprechen und ihn stattdessen auf Gruppen zu schieben, die ironischerweise Ziel rechtspopulistischer Gewalt sind.

    Die Unterdrückung und Diffamierung nicht-zionistischer jüdischer Stimmen in Deutschland wird nicht verurteilt, obwohl es sich tatsächlich um die strukturelle Diskriminierung jüdischer Menschen handelt. Vertreter des deutschen Staates schikanieren, verunglimpfen und diskreditieren nicht-zionistische Juden und Jüdinnen, streichen Institutionen, die mit ihnen in Verbindung stehen, die Gelder (wie im Fall von Oyoun) und – was am absurdesten ist – beschuldigt sie des Antisemitismus. Deutschland profiliert sich als Experte für Antisemitismus, aber dass sie einst die »besten« Antisemiten aller Zeiten waren, qualifiziert sie immer noch nicht dazu, uns, den Juden und Jüdinnen, zu sagen, was antisemitisch ist und was nicht.

    Breitz: Die Funktion der heftigen Anschuldigungen und Denunziationen von angeblichen Antisemit*innen, von denen die überwiegende Mehrheit unbegründet ist – philosemitischer McCarthyismus –, besteht darin, Deutschlands Selbstbild als reuiger Antisemit aufrechtzuerhalten, der sich in das Gegenteil verwandelt hat: ein Land, das jüdische Menschen liebt. Es ist zutiefst beunruhigend und besorgniserregend zu sehen, wie viele Menschen, die sich selbst als progressiv verstehen, auf dieses Narrativ hereinfallen.

    Die meisten ernannten Beamt*innen, die für die Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland zuständig sind, sind nicht jüdisch, sondern Deutsche-mit-Nazihintergrund (ein Begriff, den ich mir von meinen Freunden Sinthujan Varatharajah und Moshtari Hilal borge). Das wäre so, als ob man im Post-Apartheid-Südafrika ein großes Team von Beamt*innen hätte, die entscheiden, was rassistisch ist und was nicht – und die alle weiße Südafrikaner wären.

    Roig: Deutschland hat sich nicht nur durch die bedingungslose Unterstützung des israelischen Staats und die systematische Unterdrückung nicht-zionistischer jüdischer Stimmen reingewaschen, sondern auch durch die Dämonisierung von Muslim*innen und ihre Darstellung als die wahren Antisemiten. Das Antisemitismusproblem wird auf die muslimische Bevölkerung Deutschlands projiziert, die einer gezielten Erziehung und Disziplinierung bedürfen. Dazu gehört auch die falsche Repräsentation der Juden*Jüdinnen und Muslim*innen als intrinsisch antagonistisch, also als miteinander verfeindet.

    Dazu spielte die teilweise und graduelle Anpassung zum Weißsein vieler Juden und Jüdinnen eine bedeutende Rolle. Die wichtige Frage bleibt aber: Sind jüdische Menschen weiß? Natürlich sind sie nicht durchweg weiß. Jüdische Menschen sind eine sehr vielfältige, diasporische Gruppe mit globalen Wurzeln, Nationalitäten, Hautfarben und ethnischen Hintergründen. Auch in Israel. Dennoch wurden nach dem Holocaust die Juden schrittweise und selektiv an das Weißsein assimiliert, was sehr bequem und fast notwendig war, um ihre Menschlichkeit nachträglich anzuerkennen. Jüdische Menschen als weiß zu sehen, machte es den Deutschen und den Weißen im Allgemeinen leichter, Mitgefühl zu empfinden und das ihnen zugefügte Leid anzuerkennen. Zu sehen, wie ein Volk, das als minderwertige untermenschliche Rasse konstruiert worden war, zum Weißsein aufgewertet wurde, machte es den Deutschen leichter, ein Gefühl der Gleichheit zu kultivieren, bis hin zu dem Wunsch, selbst jüdisch zu werden.

    Die sich häufende Vergabe hebräischer Namen an deutsche Babys ab den 1980er Jahren ist Teil dieser Umkehrung, wo sie sich – auch wenn unbewusst – in die Lage der Opfer versetzen. Deutsche, die zum Judentum konvertieren, können ein Zeichen für den Wunsch sein, ihrem Nazi-Hintergrund zu entkommen und unter dem Deckmantel des Philosemitismus eine gewisse Form der Opferrolle zu beanspruchen. Die Tatsache, dass meine jüdische Identität mir systematisch aberkannt wird, weil ich patrilineare (bedeutet: nur der Vater ist jüdisch) und Schwarze Jüdin bin, aber dass konvertierte Juden mit Nazi-Hintergrund für alle Juden sprechen können, zeigt, wie tief der Antisemitismus greift in der deutschen Gesellschaft.

    Dotan-Dreyfus: Wenn man in der Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin ist, sieht man verschiedene jüdische Personen aus der Geschichte Deutschlands. Es sind Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Philosoph*innen usw. Aber keine Rabbiner, zum Beispiel. Ich denke, es ist schwieriger, dort Rabbiner zu zeigen, weil sie so anders aussehen. Das Jüdische Museum ist ein Ort, wo man Menschen einlädt, damit sie etwas über das Judentum lernen und dadurch soll unter anderem auch Antisemitismus bekämpft werden. Und der Ansatz ist: Die Jüdinnen und Juden sind genauso wie ihr, Deutsche. Das ist doch viel zu einfach. Die Botschaft sollte sein: Die Jüdinnen und Juden sind manchmal genauso wie ihr. Und manchmal nicht. Sie sind eine diverse Gruppe. Und auch wenn sie nicht wie ihr aussehen, denken, leben – auch dann solltet ihr sie nicht hassen.

    Während der Diskurs in Richtung »gute Juden« und »schlechte Juden« geht, erinnere ich mich an diesen Raum im Jüdischen Museum und denke mir: Sind der »gute Jude« oder »gute Jüdin« einfach mehrheitsgesellschaftliche Deutsche, die Hanukkah feiern? Akzeptieren sie uns nur, solange wir ihre Kriterien erfüllen? Ist das nicht an sich antisemitisch?

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