Die TV-Bilanz 2023: Perfektion und Niedertracht

Zwischen Wahrheit und Lüge: Ein Rückblick auf das TV-Jahr 2023

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Als das Rauchen noch geholfen hat: »Maestro« auf Netflix
Als das Rauchen noch geholfen hat: »Maestro« auf Netflix

Mystery, Empowerment, Fake-Dokus, Coming-of-Age, oft als Sechsteiler à 45 Minuten: Auch 2023 erfrischen die Seitenarme den Fernsehmainstream. Krimis sind weiterhin wichtig, aber selten bemerkenswert, weshalb diesseits der Sendeplätze für Hauptkommissare und Wachtmeisterinnen mehr Raum für ermittlungsfreies Experimentieren blieb – sehenswertes wie saumäßiges.

Platz 11: »Tender Hearts«, Sky

Als Anfang April die erste der acht Folgen lief, dachte man: Einsame Frau von morgen (Friederike Kempter) verliebt sich in Love-Roboter – gab’s das nicht bei »Ich bin dein Mensch«? Gab es! Aber nicht so visionär, originell, lustig wie in Pola Becks Serie.

Platz 10: »Die Verräter«, RTL+

Wer Brettspiele hasst, meidet auch »Cluedo«, wo ausgeloste Mitspieler ihre Identität als Mörder verheimlichen. Wer RTL-Formate hasst, meidet auch »Die Verräter«, wo selbiges im echten Schloss passiert. Ein Fehler! Moderiert von Sonja Zietlow, war die Reality-Version von »Cluedo« bei allem Trash ein Springquell pfiffiger Spannungssimulation.

Platz 9: »Maestro«, Netflix

Früher hat Netflix Filme mit Niveau vorm Streamen im Kino geparkt, um Oscars zu bekommen. Beim Biopic »Maestro« war das unnötig, aber sinnvoll. Denn Bradley Coopers Porträt des Dirigenten und Komponisten Leonard Bernstein und dessen Frau Felicia (Carey Mulligan) ist so famoses Fernsehen, dass es auf Leinwand wie Bildschirm begeistert. Was ebenso für Meisterwerke wie »Nyad«, »Leave the World Behind« und »The Killer« gilt.

Platz 8: »Mein Falke«, ARD

Mit Hollywood können deutsche TV-Filme schon wegen des Budgets nicht mithalten. Es sei denn, sie ersetzen Produktionsgüte durch Tiefenschärfe. Wie Dominik Graf. Sein brüllend stilles ARD-Porträt mit Anne Ratte-Polle als einsame Frau, der »Mein Falke« aus dem Loch ihrer Lebenskrise hilft, war sogar noch fesselnder als »Gesicht der Erinnerung«, Grafs Antwort auf Hitchcocks Psychodrama »Vertigo«.

Platz 7: »Was wir fürchten«, ZDF

Damit zu deutscher Mystery. Wenn Lisa (Mina-Giselle Rüffer) in Daniel Rübesams Sechsteiler trotz Panikattacken stets genau dahin geht, wo es in ihrer verfluchten Schule am lautesten spukt, wirkt sogar der verrätselte (natürlich sechs mal 45 Minuten lange) ARD-Mumpitz »Schnee« gehaltvoll. Unfreiwillig komisch ist beides.

Platz 6: »Wir sind die Meiers«, ZDF

Ach, wie schön ist dagegen doch freiwillige Komik – und zwar auf höchstem Niveau einer fabelhaften Kunstform: der Mockumentary. In »Wir sind die Meiers« spielen Stars von Matthias Matschke bis Bettina Lamprecht Familienmitglieder, die jedes deutsche Klischee in pseudorealistischen Humor verwandeln.

Platz 5: »Ernstfall – Regieren am Limit«, ARD

Nicht gefakt, sondern faktisch brillant sind diverse ARD-Dokus, die allein den Rundfunkbeitrag rechtfertigen. »Ernstfall« etwa, Stephan Lambys dreiteilige Ampel-Analyse im Dauerkrisenmodus. Dazu »Erfundene Wahrheit«, Daniel Sagers sorgfältige Aufarbeitung der Relotius-Affäre. Oder die Milieustudie »Echt«, in der Kim Frank die 90er am Beispiel seiner eigenen Teeny-Band analysiert.

Platz 4: »Luden«, Prime Video

Mittig zwischen Wahrheit und Lüge steht hingegen Historytainment Marke »Luden«. Gespickt mit echten Kiezgrößen der 80er, malt die Serie St. Pauli als dreckig-funkelndes Sittengemälde auf den Flatscreen, das bei aller Authentizität larger than life ist. Also ähnlich plausibel übertrieben wie »Sam, ein Sachse« – das furiose Disney-Biopic des ersten schwarzen Volkspolizisten, der straffällig wurde.

Platz 3: »Deutsches Haus«, Disney+

Mit Realitäten hatte Geschichtsfiktion stets dann wenig zu tun, wenn Nazis vorkamen, besser: fehlten – spinnt es doch die Mär vom deutschen Opfervolk weiter. Weil »Deutsches Haus« über den ersten Auschwitz-Prozess vor NS-Tätern überquillt, ist die Dramaserie daher schon mal glaubhaft. Genial wird sie dank der Verknüpfung dreier Familien zum Sittengemälde einer vergesslichen Nation.

Platz 2: »Boom Boom Bruno«, Warner TV

Angeblich will Kerstin Laudascher ja die toxische Männlichkeit der Titelfigur persiflieren. So mitfühlend aber, wie Maurice Hübner Ben Beckers homophoben Cowboy-Cop einen Mord im Drag-Milieu lösen lässt, ist die Serie vorgekautes Abendbrot für AfD- und Trump-Fans. Sechs, setzen!

Platz 1: »Liebes Kind«, Netflix

Wie männlicher Machtmissbrauch gewissenhaftes Entertainment wird, zeigt Isabel Kleefelds brillante Netflix-Serie »Liebes Kind« mit Kim Riedle als Opfer eines manipulativen Entführers mit Cäsaren-Syndrom. Vom Drehbuch über die Regie bis hin zu Ausstattung, Kamera, Schauspiel kratzt der Psychothriller sechs Folgen lang an der dramaturgischen Perfektion.

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