Deutschland klimapolitisch noch nicht nachhaltig

Deutschland unterschreitet das CO2-Limit, die Gesamtbilanz bleibt zwiespältig

  • Jörg Staude
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Schlagzeile las sich auf den ersten Blick gut. 2023 war der CO2-Ausstoß in Deutschland so niedrig wie vor 70 Jahren, verkündete der Thinktank Agora Energiewende am Donnerstag. Klimaexperten wissen allerdings: Die Welt kannte in den 1950er Jahren eine ausgefeilte Emissionsberichterstattung wie heute nicht. Wie also kommt die Denkfabrik zu ihrem Vergleich?

Für die Zeit vor der Wiedervereinigung haben die Autoren Daten zum Ausstoß von Treibhausgasen aus der Bundesrepublik und der DDR zusammengerechnet, schreibt beispielsweise die »Süddeutsche Zeitung«. Ganz so war es wohl nicht. Bei dem Fünfziger-Jahre-Vergleich bezieht sich Agora Energiewende auf eine 2023 in der Fachzeitschrift »Nature« publizierte Analyse, in der eine Gruppe von Wissenschaftlern globale Emissionsdaten erhoben hatten, wie der Thinktank auf Nachfrage angibt.

Fossile Zeiten neigen sich dem Ende

Danach lagen die Treibhausgasemissionen in Deutschland – Ost und West zusammen – Anfang der 50er Jahre bei rund 630 Millionen Tonnen, in CO2-Äquivalenten ausgedrückt. 1955 waren es dann schon rund 875 Millionen Tonnen – das fossile Wirtschaftswunder lässt grüßen.

Inzwischen neigen sich die fossilen Zeiten offenbar dem Ende entgegen. Das zeigen einmal mehr die von Agora Energiewende am Donnerstag veröffentlichten Emissionsdaten. Danach lag der deutsche CO2-Ausstoß 2023 bei 673 Millionen Tonnen CO2. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Rückgang um 73 Millionen Tonnen, also um zehn Prozent.

Deutlich unterboten ist auch die entscheidende Vergleichsgröße für die inländische CO2-Bilanz: die Vorgabe des Klimaschutzgesetzes. Danach hätte Deutschland 2023 rund 722 Millionen Tonnen CO2 ausstoßen können. Die Marke wurde also um fast 50 Millionen Tonnen oder rund sieben Prozent unterschritten.

Kohlesubventionen auf historischem Tief

Die Agora-Bilanz bestätigt einige Trends, die sich schon früher abzeichneten. So haben zur positiven Entwicklung vor allem Energiewirtschaft und Industrie beigetragen. So sorgten ein rückläufiger Strombedarf (minus drei Prozent) sowie günstiger und vor allem auch erneuerbarer Strom aus den Nachbarländern dafür, dass hierzulande die Kohlekraftwerke aus dem Markt gedrängt wurden.

Anders gesagt: In einem enger gewordenen Strommarkt konnte sich Kohlestrom weder gegen die erneuerbaren Energien – im Inland wie beim Import – noch gegen die auferstandene Stromerzeugung aus Erdgas durchsetzen. Die Preise für Gas sind gegenüber denen für Kohle 2023 stark gesunken, sodass jetzt effiziente Gaskraftwerke früher zum Zuge kommen, erläuterte Thinktank-Direktor Simon Müller. Die Emissionen aus der besonders klimaschädlichen Braunkohleverstromung sanken so um ein Fünftel und die aus Steinkohle um ein Sechstel. Das sei ein »historisches Tief«, so Müller.

Hohe Energiepreise verringern schädliche Produktion

2023 hat Deutschland erstmals wieder mehr Strom importiert als exportiert. Der Importüberschuss deckte laut den Angaben etwa zwei Prozent des deutschen Strombedarfs. Inwieweit dadurch auch CO2-Emissionen ins Ausland verlagert wurden, kann Agora Energiewende nicht beziffern.

Beim zweiten großen CO2-Einsparer, der Industrie, sorgten hohe Energiepreise und die schwache Nachfrage für einen Produktionsrückgang, gerade in der energieintensiven Industrie. Konkret sieht das zum Beispiel so aus: Zum einen erzeugte die Industrie absolut weniger Produkte wie etwa Zement oder setzte weniger Erdgas ein. Das senkte die Emissionen um 17 Millionen Tonnen. Zum anderen benötigte die Industrie, weil sie weniger erzeugte, auch weniger Strom. Das sparte weitere rund acht Millionen Tonnen CO2 ein.

Einsparungen 2023 nicht nachhaltig

Der Thinktank weist zu Recht darauf hin, dass damit ein Großteil der Emissionseinsparungen des Jahres 2023 weder industrie- noch klimapolitisch nachhaltig ist. So könnten die Emissionen konjunkturbedingt wieder steigen oder es könnte Industrieproduktion ins Ausland verlagert werden.

In der Bilanz veranschlagt die Denkfabrik den Anteil der CO2-Senkung, der langfristig für die kommenden Jahre gesichert ist, auf lediglich 15 Prozent. Daraus dürfe nun aber auch nicht geschlossen werden, dass 85 Prozent der CO2-Einsparung allein krisenbedingt seien, betonte Simon Müller. Tatsächlich sei ungefähr die Hälfte der erzielten Senkung auf »krisenbedingte Konjunktureffekte« zurückzuführen.

Abgesehen von dieser Unsicherheit: Gebäude und Verkehr verfehlen ihre Emissionsvorgaben weiterhin deutlich. Um im Verkehr das Ziel zu erreichen, 2030 rund 15 Millionen reine Elektroautos auf den Straßen zu haben, müssten die E-Autos schon jetzt einen Anteil von rund 90 Prozent an den Neuzulassungen haben, rechnete Müller vor. Tatsächlich seien es derzeit aber nur knapp 20 Prozent.

Zwiespältige Sparbilanz

Im Wärmesektor hat es, wie der Thinktank herausstellt, 2023 eine Art »doppeltes Rekordjahr« gegeben, nämlich sowohl bei der Zahl neuer Wärmepumpen als auch bei neuen konventionellen Heizungen. Insgesamt seien letztes Jahr aber mehr als zweieinhalbmal so viele fossile Heizungen verkauft worden als klimaneutrale.

Müllers Bilanz fällt deswegen zwiespältig aus. Zwar sei Deutschland um knapp 50 Millionen Tonnen unter der Zielvorgabe des Klimaschutzgesetzes für 2023 geblieben. Doch weil eben nur 15 Prozent der Senkung langfristig sicher seien, dürfe man nicht davon ausgehen, dass Deutschland beim Klimaziel für 2030 auf Kurs sei, erklärte der Agora-Chef.

Als zentrales Problem für 2024 bezeichnete er die Sicherung der Klima-Finanzierung nach dem Karlsruher Haushaltsurteil. In der Industrie seien weitere Investitionen nötig. Die Produktionsprozesse seien wirklich umzustellen – und nicht einfach ins Ausland zu verlagern. In dem Fall sei fürs Klima nichts gewonnen.

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