Poor Things: Frankensteins Monster als Feministin im Weltenrausch

Die schamlose Groteske »Poor Things« mit Emma Stone gehört jetzt schon zu den Kinohighlights des Jahres

  • Susanne Gietl
  • Lesedauer: 4 Min.
Noch hat keiner ein Wort gesprochen ... – Emma Stone überzeugt als Bella.
Noch hat keiner ein Wort gesprochen ... – Emma Stone überzeugt als Bella.

Viel Sex, viel Farbe, clevere Dialoge und dazu Bilder in Goth-Optik. Das sind die Zutaten von Yorgos Lanthimos neuestem Werk »Poor Things«. Dieses Mal ist Emma Stone auch als Produzentin an Board. Den englischen Königshof aus »The Favourite – Intrigen und Irrsinn« tauscht der Regisseur gegen Frankensteins Labor, dem Bella Baxter (Emma Stone) entspringt. Mit »Poor Things« gelingt Lanthimos ein knallbuntes Steampunk-Märchen mit fantasievollem Szenenbild und provokativen Szenen. Anders als in Alasdair Greys Roman, der 1992 erschienen ist, erzählt Drehbuchautor Tony McNamara eine Heldenreise aus Bellas Perspektive.

Prolog. Eine Frau steht in leuchtend-blauem viktorianischen Ballkleid auf einem Geländer der London Bridge. Ihr Kopf ist leicht nach vorne gebeugt, die pechschwarzen Haare sind sorgsam zusammengesteckt. Die Kamera zoomt von hinten an sie heran, dann stürzt sie in die Tiefe und ihr zweites Leben beginnt. Das nächste Bild ist in alter Frankenstein-Tradition schwarz-weiß, die ehemals elegante Frau klimpert wie ein Kind mit nackten Füßen auf einem Klavier herum. Durch eine Operation des Wissenschaftlers Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) trägt sie das Gehirn ihres ungeborenen Babys in sich. Bella Baxter muss alles neu lernen.

Von der Operation trägt Bella keine Narben. Frankenstein alias Dr. Godwin Baxter hingegen ist ein Opfer der Experimente seines Vaters. Sein Gesicht besteht aus zusammengeflickten Hautlappen. Um etwas zu essen, stöpselt er sich an einen Apparat mit zahlreichen Glasfläschchen an, sein Essen rülpst er als riesige Luftblase wieder aus. Bella, zu diesem Zeitpunkt hat sie den Status eines Kleinkindes, applaudiert ihrem Ziehvater. Noch hat keiner ein Wort gesprochen, alles wirkt seltsam antiquiert. Dass auf dem Anwesen Mischwesen aus Mops und Gans, Schwein und Huhn sowie Ziege und Ente frei herumlaufen, ergänzt das skurrile Bild.

Die Seltsamkeit der Szenen betont Komponist Jerskin Fendrix mit Streichern, Holzbläsern, Pauken und Gesang. Gerne dissonant, gerne ein bisschen neben der Spur. Durch Gespräche mit Yorgos Lanthimos und die Lektüre des Drehbuchs bekam Fendrix Einblick in das Projekt, acht Monate vor den Dreharbeiten stand die Musik fest. Das »Wunderland« für »Poor Things« kreierte Lanthimos mit seinem Team in mühevoller Kleinstarbeit. Bellas Zimmerwände sind in Seide eingekleidet, Szenenbildnerin Shona Heath und ihr Kollege James Price arbeiteten sowohl mit Miniaturkulissen als auch riesigen Studiobauten.

Sowohl Dr. Godwins Haus als auch Bellas spätere Ausflüge in die Welt entstanden im Produktionsstudio in Budapest. Die Hintergründe für die Szenen wurden gemalt und auf riesige LED-Rückwände projiziert. So durchbricht zum Beispiel ein künstlich anmutender Himmel in blau und rosa die naturalistische Kulisse von Lissabon, wo Bella mit ihrem Liebhaber, dem Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) ihr (Sex-)Abenteuer beginnt. Während ein Paar am Rande der Szene in erdfarbener Kleidung fast mit der Kulisse verschmilzt, sticht Bella in gelben kurzen Shorts, blauen Puffärmelchen und dunkler, furistischer Sonnenbrille wie eine »Alice im Wunderland« heraus. Gerne nutzte Lanthimos wie bereits in »The Favourite« Fisheye-Objektive.

Sprachlich ist »Poor Things« einzigartig. Bella kennt kein Schamgefühl. Sie spricht aus, was sie denkt und macht, was sie will. Als Bella Sex für sich entdeckt, ist sie süchtig nach »furious jumping« (wildes Herumspringen), den Begriff Sex kennt sie nicht. »Poor Things«, erscheint in England, wo der Film, anders als in Deutschland (ab 16), erst ab 18 Jahren freigegeben ist, in einer zensierten Fassung. Nicht zu sehen ist die durchaus amüsante Szene, in der ein Vater mit seinen beiden Söhnen ein Pariser Bordell für Live-Sexualunterricht besucht. Doch nicht nur wegen solcher Momente ist »Poor Things« urkomisch. Eine grandios durchchoreographierte Szene in einem Restaurant hat jetzt schon Kultstatus.

Als Bella Musik hört, bewegt sie sich intuitiv zur Tanzfläche, wo sie sich mit offen wehenden Haaren in einer Art von Befreiungstanz im Takt der Musik dreht. In Kollaboration mit der Berliner Choreographin Constanza Macras entsteht ein kindlich-ungestümer Tanz. Mark Ruffalo alias Duncan, dem Bellas Tanz sichtlich unangenehm ist, versucht, Bella auf der Tanzfläche zu mäßigen.

Emma Stone, in Wahrheit eine sehr gute Tänzerin, führt als Bella klar den Tanz an. Bella zieht Duncan von hinten an ihre Brust, ihre Figur schiebt Duncan vorwärts, der seine Beine Schritt für Schritt ungelenk nach oben wirft, die Arme streckt er aus wie ein Pinguin. Dass der liebestolle Duncan wie alle anderen Männer nur eine Spielfigur in Bellas Welt ist, der die selbstbestimmte Autodidaktin mit großem Scharfsinn begegnet, wird Duncan erst später erfahren. Zynischer könnte man das Patriarchat wirklich nicht beschreiben. »Poor Things« ist der perfekte Auftakt für ein spannendes Kinojahr – oder etwa schon DER Film des Jahres?

»Poor Things«: Irland, Großbritannien, USA 2022. Regie: Yorgos Lanthimos, Buch: Tony McNamara und Alasdair Gray. Mit: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Margaret Qualley. 141 Minuten, läuft im Kino.

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