Berlin: Erziehernotstand übertrifft Lehrermangel

Der schwarz-rote Senat rechnet den Betreuungsschlüssel für Grundschul-Erzieher schön

»Letztes Jahr waren wir formal 14 Erzieher*innen, es gab aber Tage, an denen nur ein Erzieher da war«, sagt Stefan, Erzieher an einer Kreuzberger Grundschule, zu »nd«. Und Gökhan Akgün, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Friedrichshain-Kreuzberg, erzählt folgende Geschichte: »Eine Kollegin war allein für über 100 Schüler*innen verantwortlich, stand mit ihnen auf dem Schulhof. Zwei Schüler*innen mussten sich vor die Türen stellen, damit niemand abhaut.« Die Kollegin sei dann später erkrankt, sagt Akgün. Ein Zusammenhang zur Arbeit sei medizinisch festgestellt worden.

So erschreckend derlei Erzählungen auch sind, dass die Schulen unter chronischem Personalmangel leiden, gehört in Berlin mittlerweile zur Allgemeinbildung. Über das gegenwärtige Ausmaß der Personallücke an den Grundschulen in öffentlicher Trägerschaft informiert die Senatsverwaltung für Bildung auf eine Anfrage der Abgeordneten Franziska Brychcy (Linke). Stand Januar 2024 sind an den Grundschulen demnach 366 Erzieher*innenstellen unbesetzt. Brychcy, bildungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion, stellt fest, dass mit einer Personalausstattung von nur 92,5 Prozent der Personalmangel sogar noch schlimmer sei als bei den Lehrkräften.

Senat schweigt zum realen Ausmaß

Darüber hinaus könne der gesetzlich vorgeschriebene Personalschlüssel von einer Erzieher*in pro 22 Kinder aufgrund von Krankheit, Urlaub oder Fortbildung häufig nicht eingehalten werden. Dementgegen erklärt der Senat, dass »modellhaft« sogar ein Personalschlüssel von 1:15 erreicht werden könne, denn »die Grundzumessung« von 5171 Vollzeitäquivalenten (VZÄ) für das Schuljahr 2023/24 werde durch eine »zusätzliche Personalausstattung« von 2650 VZÄ ergänzt. Letztere würden sich vor allem aus dem Personal für die Betreuung und Förderung von Kindern mit Behinderung, nichtdeutscher Herkunftssprache sowie in ungünstigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen rekrutieren.

Dass die Senatsverwaltung hier die zusätzliche Personalausstattung für spezifische Bedarfe in die Deckung des Grundbedarfs einberechne, bezeichnet Brychcy im Gespräch mit »nd« als »zynisch«. Schließlich seien die Stellen beispielsweise für Sprachförderung oder Betreuung von Kindern mit Behinderung vorgesehen. Wenn die Erzieher*in jedoch in der Grundbetreuung eingesetzt sei, werde sie ihre eigentlichen Aufgaben, für die sie finanziert wird, vernachlässigen müssen. Inwieweit der angestrebte Personalschlüssel 1:22 beim Grundbedarf erreicht wird, beantwortet die Senatsverwaltung nicht.

Realitätscheck an den Schulen

»Die können schon sagen, dass der Schlüssel rechnerisch erfüllt ist«, meint Erzieher Stefan aus Kreuzberg, »aber das ändert ja nichts an der Arbeitssituation.« Das habe auch Auswirkungen darauf, wie das Angebot angenommen werde. »Wenn ich am Ende für 35 Kinder verantwortlich bin, kann ich keine pädagogischen Angebote machen, und die Kids bleiben weg«, sagt Stefan.

Gewerkschafter Akgün befürchtet, dass diese Zahlen noch immer nicht die Realität an den Schulen darstellen. Zu »nd« sagt er: »Die offiziellen Zahlen sind schon gravierend, doch der tatsächliche Mangel dürfte noch mal um einiges höher liegen, da einige Ausfälle, beispielsweise durch Langzeiterkrankungen, Elternzeit und Sonderurlaub, dort nicht einfließen.«

Für einen Personalschlüssel von 1:15 setzt sich das Bündnis Qualität im Ganztag ein. Unter anderem Arbeiterwohlfahrt, Diakonie, GEW, der Paritätische Wohlfahrts- und der Landeselternausschuss sind Bündnispartner. Mittlerweile sind in Berlin sämtliche Grundschulen Ganztagsschulen. Da ein Personalschlüssel von 1:40 und schlechter in der Realität keine Seltenheit sei, fordert Qualität im Alltag eine stufenweise Absenkung von 1:22 auf 1:15.

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Die Abgeordnete Brychcy hält denn auch den Personalschlüssel von 1:22 für eine Arbeitsbedingung, die man angehen müsse, wolle man die Zahl der Mitarbeiter*innen stabilisieren. »Eigentlich ist schon bei 1:22 keine gute Betreuung möglich. Das sind schon sehr große Gruppen.« Dieser Rahmen führe dazu, dass sich Erzieher*innen häufiger krankmelden, auf die attraktiveren Einsatzorte Kita und Freizeit ausweichen oder gänzlich aus dem Beruf gehen, sagt Brychcy.

Ran an die Arbeitsbedingungen

Auf den jüngsten Abschluss des Tarifvertrags der Länder (TV-L) blickt Erzieher Stefan kritisch: »Wir haben ja in den letzten Jahren keine echte Lohnerhöhung bekommen, sondern allerhöchstens Inflationsausgleich. Das wird die Situation auch noch verschlimmern.« Wenn man sich als Erzieher in Berlin kaum noch ein Leben im Zentrum leisten könne und gleichzeitig in Brandenburg vier Tage mehr Urlaub bekomme, »überlegt man sich zweimal, ob man dann nicht doch nach Brandenburg zur Arbeit fährt«.

Das Land Berlin habe aber eigene Steuerungselemente in der Hand, sagt Brychcy. Jenseits der tariflich geregelten Bedingungen kann der Personalschlüssel angepasst und bestimmt werden, welches pädagogische Angebot in den Schulen bereitgestellt werden soll. Gewerkschafter Akgün meint, der Senat erkenne den Fachkräftemangel unter den Erzieher*innen gar nicht erst an: »Würde er das tun, wären andere Maßnahmen möglich. So stiegen Lehrkräfte in den vergangenen Jahren sofort in die Erfahrungsstufe 5 auf«, ohne dass sie entsprechende Arbeitserfahrung gehabt hätten.

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