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Argentinien: Gegenwind für Javier Milei
Hunderttausende beteiligen sich am Generalstreik gegen Argentiniens ultraliberalen Präsidenten
Schon in der U-Bahn in Buenos Aires herrscht Hochstimmung: Als eine Gruppe neu Zugestiegener Schmähgesänge auf den Präsidenten Javier Milei anstimmt, heitern sich die Gesichtszüge meiner Nachbarin auf. Die U-Bahn ist voll, wie in der Stoßzeit – dabei ist in Buenos Aires erst zwölf Uhr Mittag: offizieller Beginn des Generalstreiks gegen Javier Milei, den irrlichternden Staatschef Argentiniens. So ein Massenprotest schon 45 Tage nach Amtsantritt – das ist Rekord.
Auf der Avenida de Mayo herrscht Gedränge wie vor dem Fußballstadion, das Handysignal ist weg. Vor einem Konterfei von Che Guevara haben sich Jugendliche aus dem Vorstadtgürtel versammelt, es ist der Block des trotzkistischen »Polo Obrero«. In der Ferne ist die hellgrüne Kuppel des Kongressgebäudes zu sehen, dort soll in drei Stunden die Abschlusskundgebung des Protestmarsches in der Hauptstadt steigen. »Die Heimat verkauft man nicht« – das ist das Motto des Tages. 41 Staatsbetriebe wollte der Präsident verscherbeln. Die Erdölgesellschaft YPF ist schon ausgenommen.
Breite Protestbewegung von unten
In gleißender Mittagssonne drängen sich bullige Transportgewerkschafter, Mitglieder der trotzkistischen Parteien, junge Frauen mit dem grünen Tuch der Abtreibungsbewegung am Gelenk, Kulturarbeiter*innen, Stadtteil- und Umweltaktivist*innen. Blau-weiße und rote Fahnen, riesige Transparente mit Evita, dem Papst, Maradona und Messi, selbstgebastelte Schilder, teuflisch grinsende Milei-Puppen aus Pappmaché und unzählige Trommelgruppen prägen die Szenerie.
Den Durst kann man mit Fernet-Cola oder einfach nur Wasser stillen, Grillwürstchen-Rauschschwaden treiben über den Platz. 130 000 Menschen seien am Mittwoch in der Hauptstadt auf der Straße gewesen, wird die Polizei am Abend erklären, für Sicherheitsministerin Patricia Bullrich waren es nur 40 000. 600 000 sollen in Buenos Aires dabeigewesen sein, im ganzen Land 1,5 Millionen, sagen die Gewerkschafter.
Zur Abschlusskundgebung am frühen Nachmittag war der weitläufige Platz vor dem Parlament überfüllt, Zehntausende kamen gar nicht so weit und blieben auf den Zugangsstraßen. »Das ist meine erste Demo seit 1983, als wir die Rückkehr der Demokratie gefeiert haben«, sagt Kioskbetreiber Adrián Mastropierro, »Ich bekomme es täglich mit, wie die Armut zunimmt, wie Menschen die Müllcontainer durchwühlen, von denen ich das nie erwartet hätte.«
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Schon jetzt leben 45 Prozent der Argentinier in Armut, und die ersten Maßnahmen der neuen Regierung haben die Inflation auf monatlich 25,5 Prozent hochschnellen lassen. Das Parlament wird von Hunderten Polizisten abgeriegelt, zu nennenswerten Ausschreitungen kommt es nicht. Vor den Abschlussreden wird die Nationalhymne geschmettert: »Und die Freien der Welt erwidern dem großen argentinischen Volk: Gesundheit!«
Vor der Bühne wird das Gedränge wieder größer. »Wir werden so lange kämpfen, bis das Notstandsdekret und das Omnibus-Gesetz fallen«, ruft Gewerkschaftschef Héctor Daer und appelliert an die Abgeordneten, die in den nächsten Monaten über Hunderte geplante Gesetzesänderungen entscheiden müssen: »Handelt nicht versteckt im Dunkeln, schaut dem Volk ins Gesicht!« Großer Beifall.
»Es geht gegen die Arbeiter, die Rentner, die nationale Souveränität«, ruft Pablo Moyano, der Boss der mächtigen Gewerkschaft der Lastwagenfahrer. »Warum besteuern sie nicht die großen Vermögen, die Bergbaukonzerne?« Es sei ein Verrat am Peronismus, Staatsbetriebe zu privatisieren, meint er – wie schon in der 1990ern gibt es bei den Peronisten einen rechtsliberalen Flügel, der mit Milei gemeinsame Sache macht.
Das einige Volk wird niemals besiegt werden
Der Funktionär Rafael Freire, der aus Brasilien angereist ist, macht dem Publikum Mut: »Wir haben die extreme Rechte mit Bolsonaro besiegt, und hier klappt das ganz sicher auch.« Schließlich stimmte Taty Almeida, die 93-jährige Mitbegründerin der Menschenrechtsgruppe »Mütter der Plaza de Mayo«, den alten Schlachtruf der Linken an: »Das einige Volk wird nie besiegt werden.« Es folgt der Peronisten-Marsch: »Für diesen großen Argentinier/der die große Volksmasse eroberte/im Kampf gegen das Kapital …«
Mit der einigen Bevölkerung, das ist auch in Argentinien so eine Sache. Doch die Schocktherapie, mit der Javier Milei das Land im Dezember überraschte, ist ins Stocken geraten. Diverse Gerichte haben die Art und Weise, wie die Arbeitsrechte ausgehöhlt werden sollten, für verfassungswidrig erklärt.
Im Kongress haben die Ultraliberalen keine eigene Mehrheit, deswegen verhandelt die Regierung mit Dutzenden rechtsliberalen Abgeordneten über ein Kompromisspaket. Sie alle sind für Staatsabbau und Privatisierungen, doch über Tempo, Umfang und Stil wird heftig gestritten. Nächste Woche gehen die Debatten weiter.
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