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Unvergleichbar?
Der Sammelband »Erinnern als höchste Form des Vergessens?« debattiert den aktuellen Historikerstreit und bezieht erinnerungspolitische Position
Am 27. Januar 2024 jährt sich die Befreiung von Auschwitz und damit das symbolische Ende des Holocaust zum 79. Mal. Wie steht es um das Erinnern an die Shoah? Welche Lehren wurden gezogen, welche nicht gezogen oder vergessen und relativiert? Diese Fragen sind aktuell wieder von höchster Brisanz. Denn das Gedenken in diesem Jahr steht im Zeichen des Massakers der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober 2023, gerichtet gegen Jüdinnen und Juden, und des folgenden Gegenangriffs der israelischen Armee im Gazastreifen. Einerseits erstarkte weltweit wieder der Antisemitismus und Jüdinnen und Juden erleben etwa in Deutschland eine erschreckende Welle von Angriffen. Andererseits geschieht all dies während die deutsche Bundesregierung ihre rassistische Asylpolitik verschärft und Antisemitismus dafür instrumentalisiert werden soll – als wäre er ein Problem, das durch Migration nach Deutschland käme.
Der Ende 2023 erschienene Sammelband »Erinnern als höchste Form des Vergessens? – (Um-)Deutungen des Holocaust und der ›Historikerstreit 2.0‹« bietet zu diesen Fragen eine Art Bestandsaufnahme. Die Beiträge können zwar auf die jüngsten Ereignisse noch gar nicht eingehen, aber sie behandeln jene Linie der Auseinandersetzungen um die Bedeutung des Holocaust, die in den vergangenen Jahren als »zweiter Historikerstreit« geführt wurde. Die Herausgeber Stephan Grigat, Jakob Hoffmann, Marc Seul und Andreas Stahl präsentieren in dem Aufsatzband eine Vielzahl von Beiträgen, die sich mit dem Gedenken an den Holocaust und dessen Singularität auseinandersetzen – also der Frage nach dem Verhältnis von Holocaust und Kolonialverbrechen. Es geht ihnen darum, die Shoah als ein präzedenzloses Ereignis zu behaupten, das in Vergleichen zu anderen Verbrechen nicht relativiert werden dürfe. Demnach müssten also »mit der Frage der Präzedenzlosigkeit der Shoah und dem Verständnis von Kolonialismus zwei Themenkomplexe stets (implizit) mitverhandelt werden: zum einen die Frage des Verhältnisses zwischen Rassismus und Antisemitismus, zum anderen Positionierungen zum israelisch-palästinensischen Konflikt.«
Ein Genozid unter vielen?
Der Sammelband gliedert sich in drei große Teile und beginnt mit einer historischen Heranführung, in der Stephan Lehnstaedt die Zentralität der »Aktion Reinhardt« herausstellt, um den programmatischen Vernichtungswahn der Nazis zu verdeutlichen: »Völlig klar wird dabei, dass es nicht nur um die Vernichtung der Jüdinnen und Juden ging, sondern auch um das Auslöschen sämtlicher Spuren ihrer Existenz – sie von der Erde zu tilgen, als ob sie niemals existiert hätten.« Anschließend kritisiert Rolf Pohl gängige Theorien von Täterschaft im Nationalsozialismus und setzt sich mit der Frage auseinander, wer Täter*in sein kann. Einerseits stellt er Täter*innen, wie schon in Hannah Arendts »Die Banalität des Bösen«, als normale Bürger*innen dar, die sich an Autoritäten orientieren und Befehle ausführen, ohne sich selbst und die eigenen Taten weiter zu hinterfragen. Andererseits widerspricht Pohl den theoretischen Annahmen, Täter*innen hätten aufgrund von pathologischen Persönlichkeitsstörungen gehandelt. Mit Bezug auf Adornos Diktum, »die Überzeugung, Rationalität sei das Normale, ist falsch«, relativiert Pohl das Verständnis über Normalität, in welchem schon Ausformungen von Sadismus drinsteckten. In dieser Normalität sei die gesellschaftliche Verstärkung bis zum Massenmord bereits angelegt.
Der amerikanische Historiker Steven T. Katz befasst sich mit dem Begriff des Holocaust als Genozid. Der Holocaust sei als Genozid einzuordnen, weil dieser zum Ziel hatte, »eine Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten«. Die Debatte darum, was als Genozid gilt, steht hierbei in einem aktuellen Licht. Immerhin scheint der Begriff des Genozids seit dem 7. Oktober wieder infrage zu stehen. Laut der UN-Definition, auf die sich Katz bezieht, ließe sich der Krieg in Gaza, trotz seiner Tragik und Grausamkeit, nicht so leicht darunter subsumieren, wie es vielen scheint. Damit schafft er es, den Leser*innen noch einmal vor Augen zu führen, dass ein Verbrechen nicht erst ein Verbrechen ist, wenn es als Genozid kategorisiert werden kann, aber doch die Definition juristisch und politisch wichtig ist, um die Art der Verbrechen zu verstehen.
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Das universell Besondere
Was Katz’ Analyse zum Genozid der Nazis an den Sinti und Roma angeht, so ist dieser Text allerdings schlecht gealtert. Der Autor behauptet, es sei den Nazis lediglich darum gegangen, Sinti*zze und Rom*nja kulturell und nicht, anders als bei Jüdinnen und Juden, physisch zu vernichten. Der heutige Forschungsstand hingegen belegt, dass die Nationalsozialisten auch gegen diese Personengruppe Ausrottungsfantasien an den Tag legten.
Das Interview von Jakob Hoffmann mit dem israelischen Historiker Yehuda Bauer nimmt den roten Faden noch einmal deutlich auf. Bauer war einer der ersten Holocaustforscher, die die Shoah als präzedenzlos bezeichneten. Im Interview gibt er aber zu verstehen, dass dies nicht bedeute, man könne den Holocaust nicht vergleichen: »Das universelle Merkmal des Holocausts ist die Tatsache, dass Menschen ermordet wurden. Das ist etwas, das jedem Völkermord und jedem Massenmord geschieht. Es gibt keinen Unterschied zwischen der Ermordung eines Juden und der Ermordung eines anderen Menschen in solchen Situationen. Das ist der universelle Aspekt des Holocaust, und deshalb sind Vergleiche unerlässlich.« Wie Steffen Klävers und Ingo Elbe in ihren jeweiligen Beiträgen verdeutlichen und auch Bauer aufzeigt, muss allerdings, um die Spezifik der Shoah verstehen zu können, die Vernichtungsideologie des Nationalsozialismus analytisch erfasst werden. Schließlich weist Yehuda Bauer darauf hin, dass die Aufarbeitung der Shoah nicht von den Deutschen selbst kam, sondern von den Opfern und deren Nachfahr*innen eingefordert wurde.
Präzedenzlos, nicht unvergleichbar
Wie diese Erinnerung dann für nationale Zwecke instrumentalisiert wurde, zeigen die Beiträge des zweiten und dritten Teils des Buches. Nicolas Berg beispielsweise schreibt über die verschiedenen Geschichtsdeutungen des Holocaust in der frühen Bundesrepublik. Aus seinem Beitrag geht hervor, dass es vor allem die Arbeit der Betroffenen war, dass Aufarbeitung des Holocaust möglich wurde. Berg beendet seinen Beitrag mit einem eindringlichen und für heute sehr relevanten Appell zur Erinnerung: »Denn nicht die vergangene Vergangenheit sagt uns, was sie bedeutet hat; wir Zeitgenossen allein sagen uns, was sie bedeuten soll, was sie uns bedeuten soll. (…), ich meine es erkenntnistheoretisch, intellektuell, in Bezug auf unser Denken im Allgemeinen und auf das Nachdenken über uns selbst im Besondern.«
Einen bemerkenswerten Aspekt betont der Beitrag von Anja Thiele. Durch ihre Auseinandersetzung mit der Gedenkpolitik in der DDR und die Bedeutung für jüdische Kommunist*innen, schafft sie es eindrücklich, eine Leerstelle zu füllen, die oft übersehen wird. Sie tastet sich anhand Peter Edels Romane an die Verarbeitung der Erfahrungen in der Shoah heran, um aufzuzeigen, was es für jüdische Menschen bedeutete, dass das Gedenken in der DDR vor allem den politischen Gefangen galt und nur aufrechterhalten wurde, um das eigene Selbstbild des Antifaschismus hervorzuheben.
Elke Rajal gibt abschließend einen treffenden Einblick, wie antisemitismuskritische Bildungsarbeit aussehen könnte, die tatsächlich Lehren aus dem Grauen zieht. Immerhin kann die Vergangenheit, wie die Herausgeber Adorno in ihrer Einleitung zitieren, erst dann aufgearbeitet sein, »wenn die Ursachen des Vergangen beseitigt wären«.
Auch wenn aus der Präzedenzlosigkeit keine Unvergleichbarkeit folgen soll, bietet der Band wenige Beiträge, die einen tatsächlichen Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen dem Holocaust und Kolonialverbrechen vornehmen. So wird an mancher Stelle verkannt, dass sich auch Kolonialverbrechen deutlich voneinander unterscheiden. Diese tatsächlichen Analysen zu leisten, ist jedoch auch nicht erklärte Aufgabe des Sammelbandes. Er will im besten Fall dafür die Grundlage bieten, indem er verdeutlicht, welche Probleme ein falsches Gedenken an den Holocaust und ein Verkennen der Besonderheiten des Vernichtungsantisemitismus in sich birgt.
Stephan Grigat/Jakob Hoffmann/Marc Seul/
Andreas Stahl (Hg.): Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-)Deutungen des Holocaust und der »Historikerstreit 2.0«. Verbrecher-Verlag, 470 S., br., 29 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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