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- Ezzes von Estis
Goldene Jojch – Hühnersuppe
Wenns einem schlecht und schlechter geht, kocht man sich die Rettung
Einmal ging es meinem Freund Chaim ganz schrecklich schlecht. Erst hatte seine Frau ihn verlassen, dann auch noch die Frau seines Nachbarn (seine Frau wegen der anderen, und die andere nutzte einfach die Gelegenheit). Danach ging es Chaim wirklich sehr schlecht, aber noch nicht schrecklich schlecht und erst recht noch nicht ganz schrecklich schlecht. Weil es ihm aber schlecht genug ging, ließ er den Kopf hängen und lief nur noch gebeugten Hauptes durch die Straßen, auch wenn er sicher nicht »gebeugten Hauptes« gesagt hätte, sondern vielleicht mit a kop wi a schtejn (wobei ihm ohnehin nicht nach sprachlichen Finessen gewesen wäre, weshalb er auch gar nichts sagte, sondern einfach nur gebeugten Hauptes vor sich her lief).
Deshalb war es auch kein Wunder, dass er von einem rüden Kerl angerempelt und dann auch noch angerüpelt wurde, während er selbst darauf nichts erwidern konnte, sondern auf die Straße fiel und sich eine Rippe brach, mittendurch, im Ergebnis also ganze zwei. Nicht dass er die Rippe vorher besonders oft gebraucht, sich um sie gesorgt, ihr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, was eine gewisse Parallelität zu seiner Frau nicht ausschließt; jetzt aber tat sie, die Rippe, ihm plötzlich leid, zusätzlich zu seiner Frau. Außerdem hatte er bei seinem Sturz sein Portemonnaie verloren, wo einerseits nicht viel Geld drin war, andererseits aber alles Geld, das er besaß.
Nun ging es Chaim noch schlechter. »Könnte ich doch in Gold schwimmen«, stöhnte er, »dann hätte ich keine Sorgen oder zumindest weniger, oder aber sie wären mir schlichtweg egal!« Ja, jetzt ging es ihm noch schlechter, aber schrecklich schlecht ging es ihm erst, als er sich, weil er keine eigene Wohnung mehr hatte, bei seinem Bruder einschloss, aufs Bett legte und nicht mehr aufstand, eben weil es ihm schrecklich schlecht ging. Er magerte ab, schrumpfte und verschrumpelte, während sein Bart wuchs und seine Fingernägel und sein Selbstmitleid, die alle zusammen, so schien es, seinem darbenden Körper für ihr Wachstum die letzten Kräfte und Säfte raubten. Und so wäre Chaim wohl ganz ausgezehrt worden, wenn nicht Tante Riwa bei einem Besuch den nebbich, den armen Schlucker, gesehn hätte.
Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.
Als sie ihn also vor sich hin welken sah, hob sie zu einem endlosen Oj oj oj oj oj und Oj wej an, von dem man hätte annehmen können, es sei ein Zauberspruch – oder es seien sogar zehn Zaubersprüche, weil es so viele Ojs und so viele Wejs waren, so viele, dass sie nicht aufhörten, während sie aus dem Zimmer ging, aus der Wohnung, aus dem Haus, auf die Straße, zum schochet, zu Mordechaj dem Schächter, und wieder zurück, in den Händen ein Huhn, das Huhn Esther, mit dem sie in der Küche zu Werke ging; und das Stöhnen nahm erst ein Ende, als die Fettaugen in der Brühe die richtige Größe erreicht hatten.
Hühnersuppe! Die hilft gegen alles, aber nicht nur das, sie hilft auch immer – vorausgesetzt jemand kocht sie. Natürlich sollst du immer gesund sein, und deine Mame und dein Tate und deine Großmame und dein Großtate und deine sieben Schwestern und deine drei Katzen, die gar nicht deine sind – sie sollen alle immer gesund sein, und auch dein Vetter, also ich. Und ein wenig Geld sollen sie auch haben, nicht die Katzen, aber die anderen, und dein Vetter besonders. Aber darum geht es jetzt nicht. Du sollst also immer gesund sein, aber wenn du einmal nicht so gesund sein solltest, dann gibt es Hühnersuppe für dich, aber nicht einfache, sondern goldene, goldene jojch mit Fettaugen wie Münzen, aber nicht einfachen, sondern ebenfalls goldenen.
Man sagt: Die Hühnersuppe ist jüdisches Penicillin. Doch es ist so viel mehr als Penicillin! Mit Penicillin kannst du Krankheiten heilen. Gut. Aber mit Hühnersuppe auch. Jojch is gut farn bojch, Hühnersuppe ist gut für den Bauch, das weiß jeder, das ist klar, aber Hühnersuppe ist eben nicht nur gut für den Bauch, sondern auch für den Darm und die Nieren und die Leber und sogar für den Leberfleck. Hühnersuppe hilft nicht nur wie Penicillin gegen äußere Krankheiten, sondern auch gegen innere: gegen Halsschmerzen und Herzschmerzen, gegen Armut und gegen Unmut, gegen Schlaflosigkeit und Ratlosigkeit, gegen Depressionen und Repressionen, gegen die übelste Pest und gegen die übelste Post, gegen den Einfall von Bakterien und den Fall von Imperien.
Gegen alle Gesetze der Physik und sämtliche Gesetze des Geistes kommst du an mit der Hühnersuppe. Zum Beispiel: Zores mit jojch is gringer wi zores on jojch – Sorgen mit Hühnersuppe sind leichter als Sorgen ohne Hühnersuppe. Warum? Nun, das ist auch klar: In jojch steckt das oj nämlich schon drin, aber es ist unschädlich gemacht, es ist eingefasst in die warme, die weiche, die nährreiche Substanz. Damit wären wir schon fast wieder bei Chaim und seiner Tante, wenn es über Hühnersuppe nicht noch so viel mehr zu sagen gäbe, wie Hühnersuppe mehr ist als Penicillin.
Denn sie hilft nicht nur gegen Krankheiten, wie Penicillin, sondern sie hilft auch, wie nebenher, gegen Hunger und Durst; und anders als Penicillin ist Hühnersuppe auch noch warm. Warm wäre natürlich noch gar nichts, wenn sie nicht auch schmecken würde, denn was nicht schmeckt, wird auch nicht besser, wenn es warm ist; was man aber von der Hühnersuppe beides nicht behaupten kann, weil sie erstens warm ist und zweitens auch noch gut schmeckt. Und nicht nur gut, sondern wie gut!
Hühnerbrühe hilft allen, selbst noch dem letzten potz. Sie hilft sogar mittelmäßigen Skriblern, wenn sie noch schlechter schreiben als mittelmäßig, nämlich gar nicht, was bei Lichte betrachtet wiederum besser sein könnte – wenn sie sich auch darob quälen und martern und winden, sodass sie am Ende noch weniger schreiben können, als sie zuvor schon gar nicht mehr konnten; selbst ihnen hilft Hühnerbrühe, und zwar weil die armseligen Skribler über der Hühnerbrühe das Schreiben vergessen, und selbst danach nichts mehr schreiben, es sei denn über Hühnerbrühe.
Und wenn man über Hühnerbrühe schreiben will, dann kann man fast nichts anderes schreiben als die Geschichte von Chaim, dessen Tante ihm goldene jojch kochte und sogar ans Bett brachte. Als sie den Topf aber hinstellte, wurde klar, dass sie entweder viel zu viel Suppe gekocht hatte, weil sie alle ihre Ojs und Wejs hatte loswerden müssen, oder aber, dass Chaim viel zu sehr geschrumpft war, weil er seine Ojs und Wejs nicht hatte loswerden können. Jedenfalls stürzte Chaim, als er einen Schluck nehmen wollte, mit Haut und Haar in den riesigen Topf, wobei er sich womöglich ein wenig verbrühte, aber dafür zu einem schönen, runden, weichen knejdel wurde, sodass all seine Sorgen auf einen Schlag ihre Schrecklichkeit und überhaupt alle Bedeutung verloren.
So fand auch Chaim Hilfe, in unerwarteter Weise, aber dank eines bewährten Mittels – des goldenen jojch.
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