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Großbritannien: »Dreizehn Jahre Tory-Sparpolitik«

Mediziner streiken in Großbritannien, weil die Regierung zunehmend auf ein privates Gesundheitssystem setzt

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 7 Min.
Die NHS-Krankenhäuser sind oft überlastet. Häufig kommt es zu Verzögerungen bei Entlassungen, was neuen Patienten den dringend benötigten Zugang zur Behandlung verwehrt.
Die NHS-Krankenhäuser sind oft überlastet. Häufig kommt es zu Verzögerungen bei Entlassungen, was neuen Patienten den dringend benötigten Zugang zur Behandlung verwehrt.

Vier Tage vor Weihnachten steht Doktor Meyerson am Streikposten und gibt Instruktionen. »Jetzt ruft mal: ›Was wollen wir? Faire Bezahlung! Wann? Jetzt!‹« Die etwa fünfzig Assistenzärzte, die sich vor dem University College Hospital im Londoner Zentrum aufgestellt haben, brüllen los. Sie wissen mittlerweile, wie das geht. Seit über einem Jahr dauert der Disput zwischen der Regierung und den englischen »junior doctors« an. Die Ärzte fordern eine Lohnerhöhung von satten 35 Prozent – der Ärzteverband British Medical Association hat ausgerechnet, dass es so viel brauche, um die Einbußen der vergangenen fünfzehn Jahre wettzumachen.

Aber eigentlich gehe es beim Streik um viel mehr, erklärt Andrew Meyerson, ein 41-jähriger Mann mit Stoppelbart und runder Brille: Die gesamte Zukunft des britischen Gesundheitsdienstes, des National Health Service (NHS), stehe auf dem Spiel. »Wir sehen derzeit den größten Angriff auf den NHS seit seiner Gründung vor 75 Jahren.«

Als Meyerson 2015 nach Großbritannien kam, war er tief beeindruckt vom britischen Gesundheitssystem. »Als Patient stellte ich mit Verblüffung fest, dass meine gesamten Gesundheitskosten durch meine Steuern gedeckt sind«, sagt er. In seiner Heimat ist das ganz anders. Meyerson wurde in Baltimore an der US-amerikanischen Ostküste geboren. Er wuchs in einer »healthcare family« auf, wie er sagt. »Mein Vater ist Arzt, meine Mutter Sprachtherapeutin, mein Bruder Rettungssanitäter und meine Schwester Rabbinerin und Seelsorgerin in einer Palliativstation in New York.« Entsprechend weiß er, wie das US-Gesundheitssystem funktioniert – oder eben nicht. »Ich bin aufgewachsen mit Geschichten von Leuten, die wegen Arztrechnungen in den Bankrott getrieben wurden.« Das System sei einzig und allein darauf ausgerichtet, den Krankenversicherungen Profit zu bringen.

Meyerson zog nach Großbritannien, um sich zum Arzt ausbilden zu lassen. Das Konzept des NHS gefiel ihm auf Anhieb. Keine Krankenversicherung, keine schwierigen Gespräche über Geld, keine Ungleichbehandlung wegen Armut oder Reichtum: Wer behandelt werden muss, wird behandelt, und zwar kostenlos.

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Dass das NHS-Prinzip funktioniert, haben auch Studien bestätigt. 2014 kam ein internationaler Expertenausschuss zu dem Schluss, dass Großbritannien von elf untersuchten westlichen Ländern das beste Gesundheitssystem hat – die USA kamen als Schlusslicht auf Platz elf. Auch 2017, als die Studie wiederholt wurde, war der NHS die Nummer eins. Aber dann ging es schnell bergab. 2021 war Großbritannien auf Platz vier abgerutscht.

Meyerson glaubt, dass es seither noch schlimmer geworden ist: »In mancher Hinsicht ist unsere Gesundheitsversorgung derzeit unter den schlechtesten in Europa.« Er hat den Zerfall aus nächster Nähe erlebt. »Die Qualität der Behandlung hat in den vergangenen zehn Jahren drastisch abgenommen«, sagt er. Der Grund: Mitarbeitermangel und schrumpfende Ressourcen.

Meyerson arbeitet in der Notaufnahme eines Spitals im Osten Londons. Mit der alltäglichen Hektik würde er unter normalen Umständen klarkommen. »Wenn uns die Ärzte und Pfleger fehlen, so wie jetzt, können wir die Leute nicht schnell genug behandeln.« Draußen stauen sich die Rettungsfahrzeuge. »Vor jeder Notaufnahme in England stehen die Ambulanzen Schlange und warten verzweifelt darauf, ihre Patienten einliefern zu können«, sagt Meyerson. »Aber wir haben nicht genügend Betten, um sie aufzunehmen. Die Verzögerungen sind in vielen Fällen tödlich.«

Meyersons Erfahrungen lassen sich auf den gesamten NHS übertragen. Insgesamt sind derzeit etwa 112 000 Stellen unbesetzt – es fehlen Ärztinnen, Pfleger, Hebammen, Rettungssanitäter, Therapeutinnen und technische Mitarbeiter. Die Zahl der Krankenhausbetten hat sich in dreißig Jahren halbiert; es bleiben rund 2,4 Betten pro 1000 Einwohner – weit unter dem OECD-Durchschnitt. Der NHS verfügt auch über weniger CT- und MRI-Scanner als vergleichbare Länder. »Vom Moment, in dem jemand die Ambulanz ruft, bis zur Entlassung aus dem Krankenhaus: Auf jeder Stufe dieses Prozesses fehlen uns die Mitarbeitenden und die Mittel«, sagt Meyerson.

Wie groß der NHS-Notstand ist, lässt sich anhand von Statistiken veranschaulichen. 7,7 Millionen Menschen warten derzeit auf eine Routinebehandlung – ein absoluter Rekord. Die Sterblichkeit bei Brust-, Darm- oder Lungenkrebs, bei Herzattacken und Gehirnschlägen ist unter den höchsten in der westlichen Welt. Im vergangenen Winter schätzte der Verband der Notfallmediziner, dass jede Woche zwischen 300 und 500 Patienten wegen Engpässen in den Notaufnahmen sterben. Das belastet auch die Angestellten: Fälle von Burnout und Depression haben zugenommen, die Suizidrate unter Ärzten ist hoch. Erst vor wenigen Monaten musste Andrew Meyerson selbst zum Begräbnis eines Kollegen, der sich das Leben genommen hatte.

Wenn Meyerson über den bröckelnden NHS spricht, klingt er fast schon verzweifelt. Er versucht gar nicht erst, seine Bestürzung über das, was mit dem Gesundheitsdienst passiert, zu verbergen. Seine Tweets über die NHS-Krise und den Ärztestreik beginnt er oft mit den Worten »Liebes Großbritannien« – vielleicht hofft er, dass man den Warnungen eines Außenstehenden mehr Beachtung schenkt. Was die Ursache für die Krise ist, darüber hat er keinen Zweifel: »Dreizehn Jahre Tory-Sparpolitik«.

Als die konservative Regierung 2010 an die Macht kam, zückte sie den Rotstift. Im folgenden Jahrzehnt wuchs das Budget im Schnitt um mickrige 1,4 Prozent pro Jahr. Es dauerte nicht lange, da wurden die Wartezeiten länger, die Qualität der Pflege nahm ab und die Löhne sanken. Der Brexit 2016 machte alles noch schlimmer: Tausende EU-Bürger verließen das Land, was die Personalprobleme verschärfte, vor allem in der Pflege.

Andrew Meyerson ist sich sicher, dass all das nicht beiläufig geschehen ist: Es sei ein bewusster politischer Entscheid gewesen, den NHS kaputtzusparen. »So sollen die Leute ins private Gesundheitssystem geschubst werden.«

Warum ist das ein Problem? »Aus einer ganzen Reihe von Gründen«, sagt Hope Worsdale. Die 28-Jährige arbeitet für Just Treatment, eine vor fünf Jahren gegründete Kampagne, die sich dafür einsetzt, dass alle Bürger Zugang zu einer erstklassigen Gesundheitsversorgung haben. Die schleichende Privatisierung macht ihr Sorgen. »Erstens bildet der Privatsektor kein Gesundheitspersonal aus – er schnappt sich Fachleute, die im NHS ausgebildet worden sind und spart so haufenweise Geld.« Auch spezialisieren sich die profitorientierten Behandlungszentren auf unkomplizierte Fälle – etwa Knie- oder Hüftoperationen. »Die schwierigen, aufwendigen Fälle hingegen, die weniger lukrativ sind, überlassen sie dem NHS«, sagt Worsdale. Zudem sind Bedenken über die Qualität der Pflege aufgekommen: 2022 ergab eine im Fachjournal »The Lancet« publizierte Studie, dass die Auslagerung medizinischer Behandlung an den Privatsektor mit mehr Todesfällen bei behandelbaren Krankheiten korreliert.

Trotzdem setzt die Regierung weiterhin auf den Privatsektor. Derzeit erlebt er einen richtigen Boom – und zwar gerade, weil der NHS mit so großen Problemen kämpft. Denn Ende 2022 kündigte die Regierung an, dass der Einsatz von Privatspitälern »auf Touren gebracht« werden solle, um die ausstehenden Behandlungen zu bewältigen.

Hope Worsdale sagt, dass dabei auch handfeste Interessen im Spiel seien: »Es gibt unzählige enge Beziehungen – persönliche wie finanzielle – zwischen Gesundheitskonzernen und gewählten Politikern.« Der »Daily Mirror« hat letztes Jahr mehr als zwei Dutzend Tory-Parlamentsabgeordnete ausgemacht, die als Direktoren, Aufsichtsräte oder Berater von Gesundheits- und Pharmakonzernen aktiv sind.

Es ist eine altbewährte Methode der Privatisierung, wie sie der US-amerikanische Publizist und Aktivist Noam Chomsky beschrieben hat: Man zieht einer staatlichen Organisation das Geld ab und stellt sicher, dass sie nicht funktioniert – und wenn die Leute darüber richtig frustriert sind, verscherbelt man die Organisation an den Privatsektor. Hope Worsdale sorgt sich, dass es auch beim NHS passieren könnte. Zumindest gibt es erste Anzeichen: Die Zahl der Briten, die sich privat versorgen, ist zuletzt deutlich angestiegen.

»Wir sind mit unzähligen Patienten in Kontakt, die Tausende, manchmal mehr als 10 000 Pfund aus ihrem eigenen Portemonnaie bezahlt haben, um sich lebensrettenden Operationen und Behandlungen zu unterziehen«, sagt sie. Dies sei für viele ein enormes finanzielles Risiko, aber sie hätten keine andere Wahl: »Für eine staatliche Behandlung müssten sie Monate, sogar Jahre warten. Aber sie wollen einfach, dass die Schmerzen aufhören.«

Was Aktivisten wie Hope Worsdale besonders bedenklich finden: Die Labour-Partei, die wohl die nächsten Wahlen gewinnen wird, hat nicht vor, die Privatisierung zurückzufahren. Wes Streeting, in der Oppositionspartei Sprecher für Gesundheitspolitik und mit großer Wahrscheinlichkeit der nächste Gesundheitsminister, erklärte im November, er wolle »dem Privatsektor die Tür weit offenhalten«. »Das wäre ein Desaster«, sagt Worsdale.

Anfang Januar legten die Assistenzärzte sechs Tage lang die Arbeit nieder, es war der längste Streik in der Geschichte des staatlichen Gesundheitsdienstes. Meyerson glaubt nicht, dass ihm und seinen Kollegen bald die Luft ausgehen wird – zu viel stehe auf dem Spiel. »Wir streiken, weil wir uns als letzte Verteidigungslinie gegen eine Regierung sehen, die entschlossen ist, den NHS – einst der Stolz dieses Landes – zu zerstören.«

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