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Obdachlosigkeit: Die moderne Version des Prangers
Nathaniel Flakin über Wohnungslosigkeit in Berlin
Vergangene Woche hat Neukölln sechs »sichere Orte« für Obdachlose vorgestellt. Wohnungen? Nicht ganz. Auf einem umzäunten, leeren Grundstück bieten weiße Sperrholz-»Wohnboxen« drei Quadratmeter Privatsphäre – ohne Heizung und fließendes Wasser.
Im vergangenen Jahr waren 607.000 Menschen in Deutschland irgendwann einmal ohne eigene Wohnung (»wohnungslos«). Etwa 50.000 waren sogar ohne jede Unterkunft (»obdachlos«). In Berlins größtem englischsprachigen Podcast diskutierten Expert*innen über die komplexen Ursachen.
Obdachlosigkeit scheint ein unvermeidliches Merkmal einer jeden Stadt zu sein. Und doch: In den ersten Tagen der Covid-Pandemie wurden in New York und Los Angeles Tausende von Menschen ohne Unterkunft in Hotels untergebracht. Eine Unterschrift genügte, um all das Leid zu beenden.
Mit anderen Worten: Unsere Regierenden entscheiden sich dafür, die Menschen auf der Straße zu lassen. Drogensucht und psychische Probleme gibt es überall, aber sie führen nur dann zu Zelten in den Stadtparks, wenn es einen Wohnungsnotstand gibt.
»Red Flag« ist eine Kolumne über Berliner Politik von Nathaniel Flakin. Sie erschien von 2020 bis 2023 im Magazin »Exberliner« und fand ein neues Zuhause bei der Zeitung »nd« – als deren erster Inhalt, der auch auf Englisch zu finden ist. Nathaniel ist auch Autor des antikapitalistischen Reiseführers Revolutionary Berlin.
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Neuköllns ehemaliger Bezirksstadtrat Falko Liecke (CDU) forderte bekanntlich eine verstärkte Polizeirepression gegen »freiwillig Obdachlose«. Was glaubt Liecke, ein Lobbyist für Immobilienspekulanten, wer sich für ein solches Leben entscheidet? Was er meint, ist, dass manche Menschen nicht in Notunterkünfte gehen wollen, wo sie nur ein paar Stunden pro Nacht bleiben können, ohne Haustiere, ohne Partner*innen, ohne Freund*innen, wo sie vielleicht ein Zimmer mit Fremden teilen müssen, die unter schweren psychischen Problemen leiden.
Der Wohnungsmarkt ist wie ein Spiel »Reise nach Jerusalem«. Wenn es zu wenige Wohnungen gibt, werden einige Leute auf dem Boden landen. In Deutschland sind die Mieten für »Sozialwohnungen« im Allgemeinen für 30 Jahre gedeckelt. Da die meisten von ihnen im 20. Jahrhundert gebaut wurden, verschwindet bezahlbarer Wohnraum schnell. Letztes Jahr wurden nur 25.000 neue Wohnungen gebaut.
Gibt es einen Mangel an Platz? Nicht einmal annähernd. In Berlin stehen fast eine Million Quadratmeter Bürofläche leer. Schauen Sie sich nur diesen schrecklichen Amazon-Turm in Friedrichshain an. Die Mitarbeitenden von Jeff Bezos würden am liebsten von zu Hause aus arbeiten – man könnte ihnen einen großen Gefallen tun und die Obdachlosenkrise der Stadt praktisch lösen, indem man dieses eine Gebäude nimmt. Dazu müsste man nur einen winzigen Bruchteil von Bezos' Vermögen nehmen.
Die deutsche Regierung gibt 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr aus. Mit diesem Geld könnte man jetzt schon eine Million neue Wohnungen bauen. Doch Politiker*innen aller Couleur beklagen, dass dies unmöglich sei.
SPD und Die Linke haben mit massiven Privatisierungen in den frühen 2000er Jahren die Berliner Wohnungskrise verursacht. Vor über zwei Jahren stimmten 59,1 Prozent der Berliner*innen für den sozialen Wohnungsbau – und zwei nachfolgende Regierungen haben diesen Auftrag einfach ignoriert.
Wenn wir Menschen auf dem Bürgersteig leiden sehen, gehen wir davon aus, dass mehrere Systeme versagt haben müssen. Denn wer würde das wollen? Doch wie alle Studien über »Housing first« zeigen, ist es in Wirklichkeit viel teurer, jemanden auf der Straße zu lassen, als ihn in eine eigene Wohnung zu stecken. Obdachlose haben häufig mit extrem teurer Notfallmedizin zu tun, und der Knast ist auch nicht billig. Obdachlose leben in Deutschland durchschnittlich nur 46,5 Jahre.
Obdachlosigkeit hat in einer kapitalistischen Gesellschaft die gleiche Funktion wie der Pranger im Mittelalter: Demütigung als Form der sozialen Kontrolle. Die Regierung erinnert uns daran: »Arbeite hart und gehorche deinem Chef, sonst machen wir das mit dir!«
In Ostdeutschland gab es, obwohl es ein sehr armes Land war, nie eine Zwangsräumung oder eine Person ohne Wohnung. Die DDR mag zwar eine repressive Diktatur gewesen sein, aber sie war auch eine nicht-kapitalistische Wirtschaft, und sie ließ Menschen nicht auf der Straße leiden.
Das kapitalistische Berlin hingegen lässt dich auf der Straße sterben – oder wenn du Glück hast, in einer ungeheizten Holzkiste.
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