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Klimaschutz mit ungedeckten Schecks
EU-Kommission empfiehlt Ziel für CO2-Reduktion für 2040, das viele Fragen offenlässt
Nimmt man die offiziellen Zahlen, sieht es mit dem Klimaschutz so schlecht gar nicht aus: Werden alle Maßnahmen umgesetzt, hat Deutschland 80 Prozent des Klimaziels für 2030 schon in der Tasche, erzählt die Bundesregierung, sobald Zweifel an ihrer Politik aufkommen. Auch die Europäische Union kennt so eine Zahl: Mit den beschlossenen Maßnahmen seien bereits 88 Prozent des neuen Klimaziels für 2040 erreichbar, erklärte die EU-Kommission anlässlich der am Dienstag von ihr vorgelegten Empfehlung.
Bisher gilt für die Staatenunion: Bis 2030 sollen die Treibhausgasemissionen um 55 Prozent sinken gegenüber 1990. Das Gesetzespaket »Fit for 55« unter dem Dach des sogenannten Green Deals soll für die Realisierung sorgen. 2050 will die EU dann klimaneutral sein. Da wird es Zeit, sich über die Entwicklung nach 2030 zu einigen. Das ist auch fürs Weltklima wichtig. Global rangieren die 27 Länder der EU mit jährlichen Gesamtemissionen von 3,5 Milliarden Tonnen CO2 auf Platz drei hinter China und den USA.
Im Sommer 2023 hatte der Wissenschaftliche Klimabeirat der EU sich dafür ausgesprochen, die Emissionen bis 2040 um 90 bis 95 Prozent zu verringern. Unter dieser Vorgabe konnte die Kommission unmöglich bleiben. Sie legte jetzt dem Parlament und den Mitgliedstaaten den Vorschlag vor, die EU solle die Emissionen bis 2040 um 90 Prozent senken.
Einen Ausstieg aus allen fossilen Energien bedeutet das indes nicht, nur mit dem Einsatz von Kohle soll 2040 Schluss sein. Größter fossiler Posten wäre der Einsatz von Öl. Erdgas würde noch in Industrie, in der Gebäudeheizung wie auch in der Stromerzeugung genutzt. Auch nach 2050, das legen die Unterlagen nahe, rechnet die EU-Kommission mit erheblichen fossilen Emissionen im geschätzten Umfang von 50 Millionen Tonnen jährlich.
Dass die Kommission mit den 90 Prozent den unteren Rand nimmt, ärgert den Grünen-Europaparlamentarier Michael Bloss. Das sei nicht ambitioniert genug und Klimaschutz mit »angezogener Handbremse«, sagt er. Die Grünen wie auch Umweltverbände plädieren entsprechend dafür, die EU solle bereits 2040 und nicht erst 2050 die Klimaneutralität anstreben. Das wäre angesichts der historischen Emissionen Europas gerecht und stünde im Einklang mit dem 1,5-Grad-Limit des Pariser Klimaschutzabkommens, erklärt Lisa Okken von WWF Deutschland. Indem die EU zu wenig Ehrgeiz zeige, verspiele die Gemeinschaft auch eine mögliche weltweite Sogwirkung.
Die Kritiker hegen indes Zweifel an der Brüsseler Botschaft, das 90-Prozent-Ziel sei bereits mit den beschlossenen Maßnahmen weitgehend zu erreichen. Für die EU-Energiekommissarin Kadri Simson gibt es kein einziges EU-Mitglied, das die Ziele für 2040 absehbar bereits erfülle. »Alle müssen also erhebliche Anstrengungen unternehmen, um ihren Energiemix zu dekarbonisieren und importierte fossile Brennstoffe durch saubere Alternativen zu ersetzen«, sagte Simson dem Redaktions-Netzwerk Deutschland.
Die EU-Kommission rechnet zudem offenbar mit ungedeckten Schecks, um das 90-Prozent-Ziel auf dem Papier zu erreichen. Dazu gehört die Annahme, künftig zehn Prozent der europäischen Stromerzeugung, vor allem die auf Erdgasbasis, mithilfe von CCS, also der CO2-Abscheidung und Speicherung, zu dekarbonisieren. Dies widerspricht laut dem Grünen-Politiker Bloss der Darstellung der EU-Kommission, CCS nur gegen die sogenannten schwer oder gar nicht vermeidbaren CO2-Emissionen der Industrie einzusetzen.
Eine ebenfalls am Dienstag vorgelegte Strategie sieht vor, allein mit CO2-Entnahmetechniken wie Direct Air Capture (DAC) bis zu sechs Prozent der heutigen Emissionen der EU einzufangen. Nach Angaben des Naturschutzbundes (Nabu) sind die Technologien bisher aber kaum über Pilotanlagen hinausgekommen und gelten aufgrund ihres Energieverbrauchs als kostenintensiv. »Das ist das traurige Eingeständnis, dass die europäischen Klimaversprechen in immer weitere Ferne rücken, weil die Abkehr von fossilen Energiequellen nicht konsequent vorangetrieben wird«, moniert Steffi Ober vom Nabu.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) begrüßt hingegen die Carbon-Management-Pläne. Ohne einen Hochlauf von CO2-Entnahmetechnologien sei ein Klimaziel in der Größe von minus 90 Prozent und mehr nicht zu erreichen, erklärte der BDI.
Seit auch der Weltklimarat in seinen Berichten vorrechnet, dass sich das 1,5-Grad-Ziel nicht allein durch CO2-Vermeidung zu erreichen lässt, verschärft sich der Streit darüber, was unter »nicht« oder »schwer« vermeidbaren Restemissionen fällt und mit welchen Techniken diese ausgeglichen werden können.
Die Debatte um das EU-Klimaziel und wie es zu erreichen ist, wird vor der Europawahl im Juni nicht mehr entschieden werden. Beobachter rechnen sogar damit, dass die neue Kommission erst im Herbst 2024 voll handlungsfähig ist und sich dann auch des Klimathemas wieder annehmen kann. Eine endgültige Einigung über ein neues EU-Klimaschutzgesetz wird nicht vor Anfang 2025 erwartet.
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