Motele, der Chalojmes-Malochner

Arbeit, was ist das - Segen oder Traum?

Am Schabbes ist Ruhetag, am Schabbes ist es verboten zu arbeiten. Aber andererseits ist es an den übrigen Tagen auch nicht verboten, nicht zu arbeiten.

Das wusste auch Motele, obwohl er sonst nicht viel wusste, sondern so gut wie gar nichts, noch nicht einmal, dass er Morduch oder vielleicht sogar Mordechaj hieß und durchaus so hätte genannt werden können, wenn er es denn gewollt hätte; aber etwas, das man nicht weiß, kann man nicht wollen. Überdies hätte man ihn vermutlich nur Morduch – und erst recht Mordechaj – genannt, wenn man ihn respektiert hätte, aber dazu hätte er etwas vollbringen oder zumindest erbringen müssen, was er eben nicht tat, gerade weil er wusste, dass es nicht verboten ist, auch an anderen Tagen als an Schabbes nicht zu arbeiten.

Dafür allerdings, dass es ihm gelang, dieses Wissen beharrlich und unbeirrt in die Tat umzusetzen – oder vielmehr in die Untätigkeit –, dafür brachte man ihm wiederum einen gewissen Respekt entgegen, wenn auch nicht die Art oder auch die Menge von Respekt, die nötig gewesen wäre, um ihn Morduch zu nennen, ganz zu schweigen von Mordechaj. Und so hieß er weiterhin einfach Motele, manchmal noch einfacher Motel, und bisweilen, wenn er noch weniger arbeitete als gar nicht, nämlich indem er auch andere an der Arbeit hinderte, schlichtweg Motke. »Motke, wakßn solstu wi a zibele: mitn kop in der erd! (Motke, wachsen sollst du wie eine Zwiebel: Mit dem Kopf in der Erde!)«

Ezzes von Estis

Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.

Obwohl dieser Spruch weniger ernst gemeint als unernst gesagt sein mochte, hatte er in der Tat etwas Wahres, denn Motel arbeitete so wenig, dass er wirklich einzuwachsen schien – nur nicht mit dem Kopf, und auch nicht in die Erde, sondern mit seinem faulen Toches in die morsche Matratze. Er hob seine Hände so selten, dass man meinen konnte, die knöchrigen, knorrigen Finger würden zu Wurzeln; seine Kleidung, halb aufgeknöpft, lumpig, löchrig, notdürftig geflickt und fleckig, welk und verwildert, glich hinabgefallenen Blätterschichten, und dazwischen überwucherte sein Bart den Körper wie unbetretenes Moos.

Womöglich bestand die Arbeit seines Körpers gerade in diesem Wachstum, der wiederum eher eine Zersetzung hätte genannt werden können. Ist aber, frage ich euch, ist im Entstehen nicht stets auch das Verlöschen enthalten und umgekehrt im Verlöschen stets das Entstehen? Denn es heißt: »Und das Sinken geschieht um des Steigens willen.« Ja, ist gar das Werden, indem das Werdende zum Gewordenen wird, nicht selbst im Vergehen begriffen? Bildet also das Sein nicht im Werden eine Einheit mit dem Nichts, wie Rabbi Ge’Hel darlegt?

Die Antwort darauf wusste Motke – wie so vieles andere – nicht, und auch nicht Motele und ebensowenig sogar Morduch, ungeachtet dass es ein und derselbe Mensch war; hätte es der Mensch hingegen gewusst, hätte man ihn vielleicht Mordechaj genannt und nicht geschimpft, wie man ihn eben schimpfte, nämlich: »Motke-Cholempeter!«

Mit cholem meinte man den Traum, weil Motele so verschlafen war, und mit Peter meinte man Motele selbst, obwohl er natürlich nicht Peter hieß und man ihn also besser Cholemmotel genannt hätte. Aber andererseits nannte man ihn vielleicht gerade deshalb Cholempeter und nicht Cholemmotel, weil er so verschlafen war, dass er kaum wusste, wie er hieß – womit diese Geschichte ja auch begonnen hatte und nun fast schon aufhört, was sie übrigens schon von Anfang an tut, indem sie, während sie entsteht, fortwährend auch im Aufhören begriffen ist, wie alle Dinge.

Man schimpfte Motele also »Cholempeter«, und obwohl dieser Schimpf weniger liebevoll gemeint als lieblos hingeworfen sein mochte, hatte er in der Tat etwas Verständnisvolles, denn während Motke, äußerlich betrachtet, nicht zu arbeiten schien, so war doch klar, dass er im Inneren auch nicht arbeitete, sondern nur vor sich hinträumte. Für ihn aber war das Träumen vielleicht die eigentliche Arbeit, ebenso wie für seinen Toches das Hineinwachsen in die Matratze, für seine Finger das Wurzeln, für seinen Bart das Wuchern, für seine Kleider das Welken.

»Horch sche, Motele, maloche is broche! (Hör zu, Motele, Arbeit ist Segen!)«, sagten seine Eltern. Er aber erwiderte: »Chalojmes senen ojch maloches! (Träumerei ist auch Arbeit!)« Also musste man wohl oder übel hinnehmen, dass Motel zu nichts zu gebrauchen war, und ließ ihn in Ruhe. Darum hätte er auch herumgelegen on a sof, ohne Ende, in alle Ewigkeit, wenn sich nicht etwas ereignet hätte, und zwar ausgerechnet in einem bestimmten Moment, als alle umher nicht nur verstanden, sondern fast schon nicht ohne Respekt anerkannten, dass Motke ein echter Chalojmes-Malochner war – und in seiner Zwecklosigkeit Teil der Schöpfung, insofern das Nichtige stets im Gewichtigen enthalten, das Gehaltlose Voraussetzung ist für die Entfaltung. Denn es steht geschrieben: »Er erschuf strahlende Farben, die schienen in den leeren Raum.«

Auch das wusste Motel natürlich nicht, doch genau in diesem Moment fielen die unreinen Lumpen von ihm ab wie Schalen, seinen Körper erfüllte von innen ein Licht, und daraus, über dem Grund seines Bartes, erhoben sich Saaten und Bäume, von reichem Korn, von ungekannt feisten Früchten schwer, die von nun an das ganze Haus und das Land und beinah die ganze Erde ernährten, ohne dass jemand arbeiten musste, weder am Schabbes noch sonst irgendwann, und vor allem nicht Motele, den niemand mehr Motke, ja nicht einmal Morduch, sondern alle nur noch Mordechaj nannten.

So zumindest träumte es Motele, der Chalojmes-Malochner.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.