Sozialforscher: Soziale Segregation an Berliner Schulen nimmt zu

Während Berlins Kieze sozial immer gemischter werden, zeigt sich eine gegenteilige Entwicklung an den Schulen

  • Interview: Yannic Walther
  • Lesedauer: 6 Min.
Arm oder reich? Das lässt sich teilweise auch an der Wahl der Grundschule ablesen.
Arm oder reich? Das lässt sich teilweise auch an der Wahl der Grundschule ablesen.

Der SAP-Gründer Hasso Plattner sorgte kürzlich mit einem Interview in der »NZZ« für Aufsehen. Dort behauptete er, dass in Berlin »ganze Stadtteile scheinbar übernommen wurden von Arabern«. Herr Vief, Sie forschen zur sozialen Mischung in Berlin, würden Sie die Aussage unterschreiben?

Das Interview hat mich geärgert, weil ich natürlich die kleinräumigen Daten in Berlin sowie meine Analysen kenne und weiß, dass das einfach Quatsch ist. Zumindest was die Segregation betrifft, also die Ungleichverteilung von Gruppen über die Stadt hinweg. Und Hasso Plattner hat natürlich auf ein rassistisches Ressentiment angespielt. Über die letzten zehn Jahre sind vor allem durch den Krieg in Syrien deutlich mehr Menschen zugewandert. Die Idee im Kopf vieler ist dann, dass alle Menschen mit arabischer Herkunft sich in bestimmten Stadtteilen wie im Norden von Neukölln ansiedeln würden.

Das entspricht aber nicht der Realität?

Historisch gesehen ist es teilweise der Fall, dass diese Gruppen sich eher in bestimmten Gebieten wie Neukölln oder Wedding und klassischerweise im Westteil der Stadt konzentrierten. Aber gerade bei Menschen arabischer Herkunft ist das Niveau der Segregation massiv gesunken. Menschen aus arabischen Herkunftsländern leben jetzt viel gleichmäßiger in der Stadt verteilt, als es noch vor zehn Jahren der Fall war, ungefähr auf dem Niveau von Deutschen ohne Migrationshintergrund. Trotzdem ist auch in den Medien von der Bildung von sozialen Ghettos die Rede. Empirisch ist es exakt andersherum.

Interview

Robert Vief ist Sozialwissenschaftler an der Humboldt-Universität. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit der Segregation an Berliner Grundschulen.

Was sind die Gründe für diese Entwicklung?

Manche Gebiete, wo es relativ starke Konzentrationen gab, sind mittlerweile die Gebiete, die starke Mietsteigerungen erfahren haben. Also klassischerweise Neukölln, Teile von Kreuzberg, Wedding oder Moabit. Wer jetzt dort hinziehen will, findet nicht das gleiche Wohnungsangebot vor, wie das noch vor zehn Jahren der Fall war. Zum Teil hängt die Abnahme der Segregation also mit bestimmten Gentrifizierungsprozessen zusammen.

Stichwort Gentrifizierung: Hat es eigentlich auch Vorteile, wenn so eine Mischung nicht stattfindet, wenn beispielsweise ärmere Bevölkerungsgruppen unter sich bleiben können?

Das ist eine ziemlich schwierige und stark debattierte Frage in der Stadtforschung. Natürlich würde man meistens sagen: Wenn ein erzwungener Wegzug stattfindet, hat das keinen positiven Effekt, weil dann viele Alltagsroutinen und soziale Kontakte erst einmal wegbrechen. Aber gesamtgesellschaftlich betrachtet ist eine stärkere Durchmischung eher gut, weil es zumindest die Chance erhöht, dass man als reiche Person mal mit Armen konfrontiert wird. Oder dass man als arme Person vielleicht auch sieht, was mit mehr Ressourcen möglich sein kann.

Kommt es denn automatisch zum Austausch?

Es ist kein Selbstläufer. Viele der Argumente für gemischte Stadtteile beziehen sich auf soziale Netzwerke. Die Frage ist aber, ob diese dann auch wirklich entstehen. Das hängt davon ab: In welchen Kontexten begegnen sich die Menschen eigentlich, wie sieht es in den Schulen, Sportvereinen, Kirchen, Nachbarschaftstreffs aus? Und da ist die Forschung gespalten. Es gibt viele, die sagen, es ist zwar schön, dass die Leute jetzt nebeneinander wohnen, am Ende machen sie dann aber doch nichts miteinander, knüpfen keine Kontakte und unterstützen sich auch nicht gegenseitig. Dann gibt es andere Forschungen, die sagen, so etwas passiert durchaus mehr als in nicht-gemischten Vierteln. Auf jeden Fall sollte man politisch immer versuchen, möglichst viele Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, damit die soziale Mischung etwas Positives hervorbringt. Sonst sieht es halt auf dem Papier nett aus, aber bringt nichts.

Sie haben Schulen angesprochen. Eine politische Vorkehrung bei öffentlichen Grundschulen ist, dass sie ihre Schülerschaft aus einem festgelegten Einzugsgebiet beziehen. Funktioniert das?

Wenn allgemein die Segregation abnimmt, müsste sie auch in der Zusammensetzung der staatlichen Grundschulen abnehmen. Es verhält sich aber gegenläufig: An den Schulen nimmt die soziale Segregation zu. Am stärksten ist die Abweichung in den neuerdings durchmischten Quartieren. Das liegt nicht nur an Privatschulen. An öffentlichen Schulen stellen manche Eltern Umschulungsanträge und klagen sich ein, damit die Kinder auf die staatlichen Schulen gehen können, die einen guten Ruf haben.

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Was kann man dem entgegensetzen?

Eigentlich sind die Einzugsgebiete schon eine sehr rigorose Vorgabe. Wir sehen aber, dass das aktuell nicht funktioniert. Die Politik sollte sich vielleicht überlegen, ob sie in Extremfällen aktiv eingreift. Also in Schulen, in denen fast nur Kinder aus Armutskontexten beschult werden, und andersherum in Schulen, die nur mit privilegierten Schülerinnen und Schülern beschult werden. Schülerinnen und Schüler könnten bei der Einschulung anderen Schulen zugewiesen werden, um eine stärkere Durchmischung zu erzeugen. Früher in den USA wurde das auch sehr radikal gemacht mit positiven Bildungseffekten.

Darüber wären vorsichtig formuliert nicht alle froh.

Die Politik wird sich da nicht herantrauen, weil sie Angst vor den privilegierten Eltern hat, die ihnen dann die Hölle heiß machen würden, wenn ihr Kind auf einmal von der Wunschschule umgetragen wird auf die nächste Schule, die deutlich stärker durchmischt ist.

Sind es dann in der Realität nicht viel eher die privilegierten Eltern, die sich absondern wollen und nicht bestimmte Bevölkerungsgruppen mit Migrationsgeschichte?

In Bezug auf die Schulproblematik würde ich sagen ja. Wir sehen, dass privilegierte Eltern versuchen, sich im Bildungssystem abzuschotten. Das findet ganz unabhängig von der Herkunft und beispielsweise auch bei internationalen Schulen in Berlin statt. Und das ist heute vielleicht auch stärker normalisiert, unter anderem durch das Mehr an Privatschulen. Vor zehn Jahren hat man eher noch akzeptiert: Da gibt es eine Schule und irgendwie wird mein Kind schon damit klarkommen. Jetzt ist man viel mehr hinterher, informiert sich vorher, vergleicht viele Schulen miteinander und dann nimmt man am Ende doch das Geld für die Privatschule in die Hand.

Zum Nachteil derer, die das Geld dafür nicht haben?

In der Bildungsforschung geht man davon aus, dass von einem wenig segregierten Schulsystem am meisten die Schülerinnen und Schüler mit einem niedrigen sozioökonomischen Status profitieren. Dass wir gerade eine Entwicklung genau in die andere Richtung sehen, ist ein negativer Effekt, den man erst einmal aufhalten und dann im besten Fall natürlich auch umkehren sollte.

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