Lieferketten, Steuern, Bürokratie: Im korporativen Jammertal

Deutsche Wirtschaftsverbände klagen über schwindende Wettbewerbsfähigkeit. Das hat Tradition

Warum die FDP ihre Zustimmung zum EU-Lieferkettengesetz zurückgezogen hat und so die Bundesregierung bei der Abstimmung an diesem Freitag in Brüssel zur Enthaltung zwingen wollte, liegt auf der Hand. Alle großen deutschen Wirtschaftsverbände nahmen in den vergangenen Tagen massiv Einfluss. Das EU-Lieferkettengesetz gefährde die »globale Wettbewerbsfähigkeit«, hieß es etwa vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI).

Auch sonst ist die Warnung vor der angeblich bedrohten Wettbewerbsfähigkeit ein Dauerbrenner: Zum in dieser Woche vorgestellten EU-Klimaziel für 2040 erklärte der von Großunternehmen dominerte BDI, es dürfe »nicht zulasten der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft gehen«. Der Chef der mittelständisch geprägten Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Rainer Dulger, holte vor wenigen Tagen zum Rundumschlag wegen »Überregulierung, hoher Steuern und Abgaben sowie Arbeitskräftemangels« aus und mahnte die Ampel-Regierung: »In den Mittelpunkt des Handelns muss jetzt die strategische Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland rücken.« Auch laut DIHK droht »die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie zu erodieren«.

Die Mahnung der Lobbyisten kommt nicht nur bei der FDP an. Für die CDU ist sie eine Steilvorlage für ihre Kritik an der Ampel, diese wiederum verspricht Steuersenkungen und Bürokratieabbau. Ganz unverblümt versuchen manche Verbände auch, den Rechtsrutsch zu nutzen. »Uns reißt mittlerweile der Geduldsfaden«, schimpfte BDA-Chef Dulger kürzlich vor Journalisten. Er könne »jetzt mehr und mehr so manchen Wutbürger verstehen«. Bei der AfD nimmt man den Ball gerne auf: »Unternehmenssteuern senken und Klimairrsinn streichen«, erklärte Leif-Erik Holm von der Bundestagsfraktion in dieser Woche. Regelmäßig behauptet die rechtsextreme Partei, dass Deutschland mitten in einer »Deindustrialisierung« stecke – vor dieser warnen die Unternehmensverbände für die Zukunft, sollte der Staat die Forderungen nicht erfüllen.

Doch wie ist die Lage tatsächlich? Wäre die hiesige Wirtschaft weniger konkurrenzfähig, gäbe es Exporteinbrüche. 2023 gingen die Ausfuhren laut Statistischem Bundesamt gegenüber dem Vorjahr um zwei Prozent zurück. Sie summierten sich aber auf 1562 Milliarden Euro – den bislang zweithöchsten Wert. Ausländische Direktinvestitionen in Deutschland gingen im vergangenen Jahr um rund 16 Prozent zurück. Allerdings bleibe Deutschland »der gefragteste Standort in der Europäischen Union«, so der Außenwirtschaftsförderer GTAI. Auch bei Verlagerungen der Industrie ins Ausland tut sich nichts Ungewöhnliches. Größere Bewegung gibt es nur in zwei Branchen der Industrie: Maschinen- und Autobau. Selbst in Sachen Bürokratie steht Deutschland laut einem Ranking der Wirtschaftshochschule in Lausanne ähnlich da wie die Konkurrenten in Europa, Asien und Nordamerika.

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Wichtige Kennziffern weisen bisher also nicht auf strukturelle Probleme hin, wie es die Wirtschaftslobby behauptet, sondern eher auf eine Konjunkturschwäche mit ganz anderen Ursachen: »Die höheren Zinsen bremsen die Investitionen, insbesondere den Wohnungsbau, und die Finanzpolitik dämpft die Konjunktur zusätzlich«, erläuert Ökonom Sebastian Dullien vom gewerkschaftsnahen Institut IMK.

Jammern als korporativer Volkssport in Deutschland ist dabei nichts Neues und war auch durchaus erfolgreich: Als es Ende der 90er Jahre extrem hohe Arbeitslosenzahlen gab und eine Pleitewelle durchs Land schwappte, drängten Unternehmerverbände auf eine Senkung der vermeintlich hohen Arbeitskosten und Steuerlast, die den Standort demnach bedrohten. Die rot-grüne Regierung senkte die Unternehmenssteuern, sie schuf einen riesigen Niedriglohnsektor und beschloss Rentenkürzungen, um die Arbeitskosten zu senken. Mit seiner Agenda 2010 wollte Kanzler Gerhard Schröder Deutschland wieder international wettbewerbsfähig machen.

Lediglich einige linke Ökonomen hielten dagegen: Weder die Lohnstückkosten noch die tatsächliche Unternehmenssteuerlast seien hier im Vergleich zu anderen Industrieländern besonders hoch. Das Problem der deutschen Volkswirtschaft sei die private und staatliche Nachfrageschwäche. Solche Stimmen gingen in der neoliberalen Reformeuphorie aber unter.

Heute ist die Debatte über die Wettbewerbfähigkeit vielstimmiger geworden, zumal auch die Situation eine andere ist: Es herrscht Fachkräftemangel, das Energiesystem befindet sich im Umbau Richtung Klimaneutralität, und neue Technologien stellen alte Geschäftsmodelle infrage. Dies sorgt für Unsicherheit. Große Investitionen stehen an, und dass der Staat höhere Ausgaben tätigen muss, ist Konsens. Doch für wen? Während BDI, BDA & Co. pauschal nach Steuersenkungen und Bürokratieabbau rufen, fordern Ökonomen gezielte Förderungen von Investitionen: Dies könnte durch bessere steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten geschehen, wie sie in der Ampel im Gespräch sind, oder durch gezielte Förderung der digitalen und ökologischen Transformation.

Die absehbaren Probleme hängen ja auch damit zusammen, dass seit 20 Jahren zu wenig in Bildung und Forschung, in die digitale und die Verkehrsinfrastruktur investiert wird. Wenn die Wirtschaftslobby dies beklagt, muss sie sich aber an die eigene Nase fassen: Gerade die Unternehmen trommelten für die Einführung der Schuldenbremse – und entzogen sich mit Steuersenkungen der Finanzierung öffentlicher Güter, von denen sie selbst profitieren.

Als größte Gefahr für die Zukunftsfähigkeit sieht Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die »Vollkaskomentalität der deutschen Wirtschaft«: Ein Teil der Unternehmen habe sich durch die riesigen Hilfsprogramme während der Finanz- und der Coronakrise daran gewöhnt, dass der Staat sie gegen alle Risiken absichere. Das Resultat seien weniger Wettbewerb und Innovation. »Die Absicht, alle energieintensiven Industrien in Deutschland in jetziger Größe zu erhalten, ist unrealistisch«, sagt der DIW-Chef. »Die deutsche Wirtschaft braucht neue Ideen und neue Unternehmen, um notwendige strukturelle Veränderung voranzubringen.«

Der ehemalige »Wirtschaftsweise« Peter Bofinger meint, Deutschland sei »mit einer grundsätzlichen Infragestellung seines Geschäftsmodells konfrontiert, der mit Deregulierung und Steuersenkungen nicht beizukommen ist«. Probleme seien die zu starke Exportorientierung, die Überbewertung der Industrie statt neuer Dienstleistungen sowie das Festhalten an veralteten Technologien wie dem Verbrennungsmotor. Bofinger fordert ein »neues Wirtschaftsparadigma«: mehr staatliche Investitionen, um die Binnennachfrage zu beleben und die Entwicklung und den Einsatz neuer Technologien zu stimulieren.

Ein Update braucht indes auch die Wettbewerbsfähigkeit selbst. Das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung Wien (Wifo) forderte bereits vor Jahren, wegzukommen vom rein kostenorientierten Schlagwort, das für ein Hocheinkommensland gefährlich sei. Laut Wifo geht es um eine wirtschaftspolitisch geförderte »Wettbewerbsfähigkeit 4.0«, die auf Innovation, hohe Einkommen, sozialen Zusammenhalt, ökologische Exzellenz und eine verantwortungsbewusste Globalisierungsstrategie setzt. Und darauf, anderen Ländern dabei voraus zu sein.

Entgegen dem Jammern der Verbandschefs sehen dies viele Unternehmen ähnlich. Große Zustimmung zum EU-Lieferkettengesetz ergaben mehrere Umfragen, zuletzt vom Handelsblatt Research Institute: Gerade einmal sieben Prozent der hiesigen Betriebe lehnen demnach die Verpflichtung ab, auf die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards in ihren Lieferketten zu achten. Und: Viele tun dies längst.

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