Westjordanland – »Immer mehr junge Männer greifen zur Waffe«

Im Flüchtlingslager Dschenin im Westjordanland droht eine weitere Eskalation im Nahost-Krieg

  • Mirco Keilberth, Dschenin
  • Lesedauer: 8 Min.

Ein nur wenige Minuten langes Überwachungsvideo aus dem Westjordanland wurde zu einem Sinnbild dafür, wie angespannt die Lage in dem von Israel besetzten Westjordanland ist. Auf den Bildern aus der Ibn-Sina-Klinik sieht man, wie als Ärzte, Krankenschwestern und Patienten getarnte Sicherheitskräfte in den ersten Stock des Gebäudes stürmen. Nachdem sie drei dort schlafende Patienten mit schallgedämpften Pistolen erschossen haben, gehen die Israelis wortlos und ruhig an dem geschockten Personal vorbei aus der Klinik.

Israelische Medien feiern die Aktion als erfolgreiche Verhinderung eines geplanten Terroranschlages. Internationale Menschenrechtsorganisationen sprechen hingegen von einem Fall für den Internationalen Strafgerichtshof. Der Mord von Verdächtigen ist auch nach den Genfer Konventionen ein Kriegsverbrechen.

Eines der Opfer, Mohammad Jalamana, war angeblich der Sprecher der Hamas in Dschenin. Zusammen mit Mohammad Gazawi, ein Anführer des Dschenin-Bataillons, und dessen Bruder Bassel Gazawi von der Gruppe Islamischer Dschihad habe der 27-Jährige einen Anschlag auf Israel im Stil des 7. Oktobers geplant, so ein Armeesprecher. In sozialen Medien kursieren Fotos, auf denen die Drei mit Waffen posieren. Unterhalb der Klinik, im Flüchtlingslager von Dschenin, halten viele die Drei für ganz normale Jungs aus der Nachbarschaft.

An den heruntergekommenen Häuserwänden des Flüchtlingslagers prangen die Fotos derjenigen, die eine der zahlreichen Razzien der israelischen Armee nicht überlebt haben. Sie sind die neuen Ikonen der palästinensischen Jugend. Wegen der brutalen Militäreinsätze schließen sich derzeit immer mehr junge Männer den verschiedenen bewaffneten Gruppen in der Stadt an und bezeichnen sich als Widerstandskämpfer.

Die Spuren der Razzia vom Vorabend sind noch überall sichtbar: Freiwillige versuchen die Wasserversorgung im Lager wieder herzustellen, israelische Bulldozer hatten die Wasserleitung durchtrennt. Die Zerstörung der Infrastruktur ist Teil einer immer gleichen Strategie, die in israelischen Armeekreisen so beschrieben wird: »Zeig ihnen, wer hier das Sagen hat.«

Bei den israelischen Militäreinsätzen fahren Konvois von mehr als einem Dutzend gepanzerter Jeeps und Truppentransporter durch die engen Gassen, Drohnen kreisen oder Kampfflugzeuge überfliegen drohend den Himmel. Kommandos stürmen in Häuser und nehmen junge Männer mit. Einige der Festgenommenen kämen nach wenigen Tagen wieder frei, andere blieben ohne Anklage für Monate in Haft, berichtet die Lehrerin Abla Ben Ghani. »Für uns gilt das Militärrecht«, sagt die Mutter von drei Teenagern. »Die israelischen Siedler im Westjordanland unterstehen dagegen dem Zivilrecht.« Der Asphalt der Straße vor ihrem Haus wurde von Armee-Bulldozern aufgerissen.

Razzien wie die vom Vortag gehören seit der Gründung des Flüchtlingslagers im Jahr 1948 für die Bewohner zum Alltag. Die 45 000-Einwohner-Stadt Dschenin gilt nach schweren Gefechten zwischen Armee und lokalen Widerstandskämpfern im vergangenen Sommer als Brutstätte eines neuen Aufstandes, einer dritten Intifada.

In der Stadt haben sich verschiedene palästinensische militante Gruppen zusammengetan. Die palästinensische Autonomiebehörde (PA) spielt kaum eine Rolle im Leben der Bewohner des Flüchtlingslagers – ähnlich wie im nahen Tulkarem, in Nablus und anderen Widerstandshochburgen. Doch außerhalb von Dschenin halten die mit der PA verbündeten Fatah-Sicherheitskräfte die Hamas aus dem Westjordanland fern und kooperieren laut gut informierten Kreisen eng mit den Geheimdiensten Jordaniens, der USA und Israels.

»Die Fatah war für uns Palästinenser die einzige Hoffnung auf die Schaffung eines Staates«, sagt Mahmud Talal, Aktivist und eine Art inoffizieller Sprecher des Widerstands. »Doch seitdem Israel der Autonomiebehörde von Mahmud Abbas nur noch 60 Prozent der ihr zustehenden Steuereinnahmen auszahlt, ist ein Machtvakuum entstanden. Dieses haben die bewaffneten Gruppen gefüllt.«

Der 47-Jährige lebt sein ganzes Leben in einem der selbst gebauten Häuser im Lager. Ähnlich wie der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant fürchtet auch Talal, das Pulverfass Westjordanland könne bald hochgehen. Nur sehen beide die jeweils andere Seite dafür verantwortlich. »Der Zünder für eine Eskalation liegt in Dschenin«, sagt Talal, »und in der Hand der israelischen Armee.«

Die Folgen der seit dem Sommer verschärften Auseinandersetzungen kann man ein paar Meter oberhalb der Hauptstraße sehen. Auf dem »Friedhof der Märtyrer« hält ein schlaksiger Mann vor dem Grab eines Freundes inne. Hunderte junge Männer, kaum einer wurde älter als Mitte zwanzig, liegen hier begraben. Fahnen und Insignien verschiedener militanter Gruppen, Koransuren und Porträts junger Männer schmücken die Gräber. Die meisten halten Handfeuerwaffen aller Art in den Händen. »Dennoch, nicht alle hier waren Kämpfer«, betont Ahmad Tobasi. Er ist der künstlerische Direktor des Freiheitstheaters von Dschenin. Für den 39-Jährigen ist auch Kultur ein Teil des Kampfes gegen die israelische Besatzung, »nur mit anderen Mitteln«, wie er betont.

Tobasi fürchtet wie viele in Dschenin, dass nach den über 30 nächtlichen Überraschungsangriffen der israelischen Armee seit dem 7. Oktober ein Kipppunkt erreicht ist. »Immer mehr junge Männer greifen zur Waffe«, sagt er und zeigt auf die vielen Bilder der Toten. »Ich will mit unserer Theaterschule Bildung und kritisches Denken stärken. Wenn sich alle den Widerstandsgruppen anschließen, bleibt irgendwann unsere hart erkämpfte Zivilgesellschaft auf der Strecke.«

Doch die Verehrung der Toten in den sozialen Medien zeigt, wie stark die palästinensische Jugend unter dem Eindruck der Bilder aus Gaza sich neuen Ikonen zugewandt hat. »Vor einem Jahr hörte mein Sohn noch westliche Popmusik oder saß vor Computerspielen«, sagt ein Besucher des Friedhofs und schaut auf das Bild eines von der Armee erschossenen Sohnes eines Freundes. »Ich schicke meinen eigenen Sohn weg von hier. Es wird immer schwerer für ihn, sich dem Sog der Milizenkultur zu entziehen.«

»Dass überall im Ort Poster von Widerstandskämpfern hängen, ist das Resultat des rücksichtslosen Vorgehens der Armee«, klagt Ahmad Tobasi und geht in das wenige hundert Meter vom Friedhof gelegene Theater zurück. »Hier, direkt vor dem Eingang, bin ich im Dezember von den anrückenden Soldaten für einen Tag festgenommen worden«, sagt er. »Mit einem Sack über dem Kopf und gefesselten Händen mussten wir fast 24 Stunden still auf den Knien sitzen.« Theaterdirektor Mustafa Scheta wurde noch immer nicht freigelassen, er sei ohne jegliche Anklage in Haft, betont Tobasi. Von der Razzia in dem Theatergebäude zeugt ein großer Davidstern, den die israelischen Soldaten an die Wand hinter der Bühne gesprüht haben.

»Die Jugend im Lager kennt nur Gewalt, Perspektivlosigkeit und Arbeitslosigkeit,« erklärt Mahmud Talal. Er zeigt auf seinem Smartphone Fotos, die ihn in Uniform und mit Waffe während der zweiten Intifada im Jahr 2002 zeigen. »Im Unterschied zu heute sahen wir unseren Kampf damals als Teil eines politischen Projektes, zusammen mit der politischen Führung und für eine Zweistaatenlösung«, betont er. »Der neuen Generation fehlt die Perspektive wie ein Friedensplan. Was bleibt, ist selbstorganisierter, chaotischer Widerstand. Außer ihrem Leben haben sie nichts zu verlieren, können aber auch nichts gewinnen.«

»Die Armee nimmt regelmäßig auch einige meiner Schüler mit«, sagt die 44-jährige Lehrerin Abla Bani Garah. Andere lägen auf dem Friedhof der Märtyrer begraben. »Ich habe Angst um die aktuelle junge Generation. Bis zum Beginn der Eskalation im letzten Jahr war sie noch unpolitisch«, sagt sie. »Nun radikalisieren sie sich, auch wegen des Horrors in Gaza.« Ihre Kurse werden seit zwei Jahrzehnten vom Freiheitstheater finanziert. Doch viele europäische Projektpartner haben nach dem 9. Oktober ihre Arbeit in Palästina eingestellt.

Halima Zuwaida und Ablah Bani Garah haben Angst um ihre Söhne – und um die radikalisierte Jugend.
Halima Zuwaida und Ablah Bani Garah haben Angst um ihre Söhne – und um die radikalisierte Jugend.

Abla Bani Garah besucht ihre Freundin Halima Zuwaida, beiden steht der Schreck über die Ereignisse des Vorabends noch ins Gesicht geschrieben. Soldaten hatten die Tür der Familie Zuwaida eingetreten und waren über Nacht geblieben. Die Zuwaidas wurden in einen Raum gesperrt. »Ich fühle mich hier nicht mehr sicher«, sagt Halima Zuwaida. »Meine drei Söhne schicke ich abends vor Einbruch der Dunkelheit zu meiner Schwester außerhalb des Lagers.«

Auch wenn der Übergang zwischen der Stadt Dschenin und dem Flüchtlingslager oft kaum erkennbar ist, selbst über 50 Jahre nach der Nakba, der Vertreibung von über 700 000 Palästinensern, fühlen sich die Flüchtlinge in dritter Generation als Bürger zweiter Klasse. »Uns gehört der Grund und Boden nicht«, sagt Abla Bani Garah. »Viele meiner Nachbarn werden weiterhin von der UNWRA-Mission der Vereinten Nationen unterstützt.«

Abla Bani Garah glaubt zu wissen, warum die Armee gegen die Flüchtlingslager des Westjordanlandes so gnadenlos vorgeht: »Die israelische Regierung will erreichen, dass wir nach Jordanien gehen.« Sie bleibt an einem von Bulldozern zerstörten Denkmal stehen. Auf den zerstörten Betonblöcken sind die Städte verzeichnet, aus denen die Großeltern der 15 000 Camp-Bewohner vertrieben wurden: Haifa, Tel Aviv, keine 60 Kilometer entfernt.

Doch für ein Innehalten bleibt keine Zeit, die groben Schäden von gestern müssen begutachtet werden. Offenbar waren auch Drohnen im Einsatz. Sie flogen sogar durch ein Fenster und explodierten, berichtet jemand aus der Nachbarschaft. Eine kleine Gruppe macht sich auf den Weg, vorbei an einer Moschee, deren Wand von einem Armeebulldozer eingedrückt wurde. Die Gruppe um Ablah Bani Garah wirkt ernst und entschlossen: »Wir bleiben hier«, sagt jemand.

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