Anschlag in Hanau: »Staat schützt uns nicht gegen rechten Terror«

Aicha Jamal über die staatliche Vereinnahmung des Hanaugedenkens und warum es eine radikale Gegenkraft braucht

  • Interview: Pauline Jäckels
  • Lesedauer: 6 Min.
Jedes Jahr am 19. Februar ruft Migrantifa Berlin zum Gedenken an das Hanau-Attentat und Protest gegen strukturellen Rassismus auf. In diesem Jahr geht die Gruppe unter dem Motto »Die Konzequenz ist Widerstand« auf die Straße.
Jedes Jahr am 19. Februar ruft Migrantifa Berlin zum Gedenken an das Hanau-Attentat und Protest gegen strukturellen Rassismus auf. In diesem Jahr geht die Gruppe unter dem Motto »Die Konzequenz ist Widerstand« auf die Straße.

Das rechtsterroristische Attentat von Hanau, bei dem neun Migrant*innen ermordet wurden, ist inzwischen vier Jahre her. Migrantifa hat sich kurz darauf gegründet. Welche Bedeutung hatte Hanau für euch?

Hanau war für viele Migrant*innen unserer Generation das, was für andere etwa der Anschlag von Solingen war. Nach dem Hanau-Attentat wachten wir auf, und die Welt war nicht mehr dieselbe – es war ein Wendepunkt, an dem viele dachten: Jetzt müssen wir etwas tun. Damals gab es zwar die antirassistische Szene, aber eine wirklich radikale, linke und migrantische Position fehlte. Hanau machte deutlich: Der Staat schützt uns nicht. Wir müssen faschistischem Terror und der Unterdrückung durch den Staat selbst etwas entgegensetzen.

Die deutsche Mehrheitsgesellschaft hat das Attentat zunächst nicht als Wendepunkt verstanden…

Es war so, als würde man in einer anderen Welt leben. Durch Hanau wurde sehr deutlich, wie wenig viele nicht-migrantische Menschen davon betroffen waren. Ich will die Betroffenheit aber gar nicht so sehr in den Fokus rücken. Das Hanau-Attentat geht deutsche Menschen mindestens genauso an wie uns. Die bittere Erkenntnis ist aber, dass es sie nicht gleichermaßen interessiert. Schauen wir uns zum Beispiel an, wie NSU oder Hanau in den Medien stattfand. Der erste Verdacht der Strafverfolgung betraf die migrantischen Communities selbst nach dem Motto »Es ist eine Auseinandersetzung zwischen Migranten«, und dann kam die Bezeichnung der Mordserie als »Dönermorde« hinzu. Das ist zutiefst rassistisch. Die Mehrheit glaubt erst mal das, was die Medien sagen.

Wir erinnern

In der Nacht des 19. Februar 2020 wurden Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov von einem rechtsextremen Täter in Hanau ermordet.

Trägt die breite Gesellschaft aus eurer Sicht Mitschuld an Hanau?

Der Rassismus der bürgerlichen Gesellschaft ist der Nährboden, auf dem rechten Terror wächst. Er ermöglicht, dass Rechtsextreme sich so schamlos in der Polizei, dem Verfassungsschutz oder der Bundeswehr ausbreiten und durch diese Verbindungen die rechtsextreme Szene auf der Straße schützen, mit Informationen ausstatten und sogar bewaffnen. Rechtsextremismus ist nur die vulgärste Ausdrucksform von Rassismus. Bürgerliche Kräfte wie Grüne und SPD, die sich jetzt bei den Großprotesten gegen die Rechtsextremen empören und gleichzeitig die schlimmsten Abschiebegesetze in der Geschichte der BRD erlassen, sind Teil desselben Problems. Aus Sicht der bürgerlichen Parteien sind Migrant*innen hier willkommen, um die Drecksarbeit zu leisten, um dem Wirtschaftsstandort Deutschland zuzuarbeiten. Deutschland braucht Migranten*innen, um sie auszubeuten, und Rassismus ist die Ideologie, die das rechtfertigt.

In den vergangenen Wochen sind Massen gegen rechts auf die Straßen gegangen. Man könnte ja meinen, genau auf ein solches »Erwachen« wartet Migrantifa…

Nein, denn die Proteste richten sich nicht gegen den Rassismus, auf dem die herrschende Ordnung fußt, sondern tragen diesen selbst mit, in dem sich für den Erhalt des Status Quo einsetzen. Diese Politik ist verantwortlich für das Erstarken von rechtem Terror. Stattdessen grenzt sich die deutsche Mitte durch die Proteste davon. Man klopft sich selbst auf die Schulter, weil man mal bei einer Demo dabei war, geht dann nach Hause und toleriert Abschiebungen im großen Stil. Die Großdemos gegen rechts sind Wahlveranstaltungen für Parteien wie die SPD oder die Grünen.

Eure diesjährige Hanau-Demo läuft unter der Parole »die Konsequenz ist Widerstand«. Was versteht ihr eigentlich unter Widerstand?

Widerstand ist für Migrantifa erstmal eine Organisierung außerhalb von staatlichen Strukturen. Der Staat versucht, das Gedenken an Hanau zu vereinnahmen. Genau dagegen stellen wir uns. Der Staat trägt nicht nur Mitschuld, er ist Teil des Problems, das wir bekämpfen. Wenn man sich beispielsweise den Untersuchungsausschuss des hessischen Landtages zum Attentat anschaut – er ist ein Witz. Danach stellte sich der hessische Innenminister hin und sagte: Wir konnten kein Fehlverhalten der Polizei feststellen. Das ist ein verdammter Schlag ins Gesicht der Betroffenen, denn die Recherchen von Forensic Architecture und kritischen Journalisten haben klar gezeigt, wie Staatsanwaltschaft und Polizei in Hanau versagt haben. Noch einmal: Der Staat, der selbst Mittäter ist, wird uns nicht helfen.

Gleichzeitig beobachten wir in der antirassistischen Szene eine Individualisierung und Karrierismus von Einzelnen, die auf der Welle dieser »Trends« schwimmen, Bücher verkaufen, in Talkshows sitzen und vermeintlich progressive Positionen hochheben. Wir wollen diesem bürgerlichen Reformismus eine radikale, antikapitalistische und revolutionäre Perspektive entgegensetzen.

Interview

Aicha Jamal ist Mitbegründerin der linken Organisation Migrantifa Berlin, die sich nach dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 gegründet hat. Migrantifa ruft auch dieses Jahr wieder am Jahrestag des Attentats zu Gedenkveranstaltung und Demo auf.

Ihr habt keine Einzelpersonen, die Migrantifa nach außen hin vertreten oder das Gesicht der Bewegung sind. Das war eine bewusste Entscheidung?

Ja, es ist einfach ein Trugschluss, dass einzelne Leute alleine etwas verändern können. Wir glauben, dass nur eine gemeinsame Organisierung etwas bewirken kann. Um dem gesellschaftlichen System etwas entgegenzusetzen, kann nur eine kollektive Organisierung etwas ändern.

Für nicht-migrantische Deutsche ist Migrantifa nicht offen. Müssten sie denn nicht Teil dieser kollektiven Organisierung sein?

Für uns war es wichtig, dass wir uns migrantisch selbst organisieren, weil es sowas eben noch nicht gab und viele von uns die Erfahrung gemacht haben, in linken Organisationen nicht gesehen zu werden. Unser Ausgangunkt ist zwar auf eine gewisse Weise identitätspolitisch, aber wir organisieren uns, um dem wieder zu entkommen. Wir wollen uns befähigen, selbstbewusst unsere Stimmen nach außen tragen zu können, aber dann wieder diese Trennung zwischen migrantisch und deutsch ablegen. Natürlich müssen wir mit weißen Menschen zusammenarbeiten. Rassismus funktioniert ja auch als ein Spaltungsinstrument im Kapitalismus, in der migrantische Menschen und Deutsche gegeneinander ausgespielt werden, obwohl alle Menschen, die lohnabhängig sind, ein gemeinsames Interesse haben.

Hat sich seit Hanau aus eurer Sicht irgendetwas verbessert?

Das rassistische Klima in der Gesellschaft nimmt weiter zu. Der Gaza-Krieg war dafür auch noch mal ein Wendepunkt. Rassismus, insbesondere Menschen mit Hintergrund aus dem Nahen Osten, ist überall ans Tageslicht gekommen. Die massive Repression gegen die palästinasolidarische Bewegung geht damit einher. So ist an den Schulen das Tragen von Kuffyahs oder anderen palästinensischen Symbolen verboten worden, und einzelne Schüler*innen sind rassistisch und sogar Teils mit körperlicher Gewalt angegangen worden. Und auf der Straße äußert sich dieser Rassismus: Im Berliner Bezirk Neukölln gibt es Besatzungszonen der Polizei, wo Demos verboten sind oder mit brutaler Polizeigewalt überzogen werden.

Die Angehörigen-Initiative 19. Februar Hanau hat explizit darum gebeten, das Gedenken nicht zur »Austragung politischer Konflikte« zu nutzen und keine Nationalflaggen zu tragen. Warum wird es bei eurer Demo trotzdem Palästinaflaggen geben?

Unsere Kämpfe gehören verbunden und nicht voneinander getrennt. Nur so können wir effektiven Widerstand gegen den mörderischen Status Quo leisten. Wir respektieren, dass die Initiative 19. Februar auf ihrer Gedenkveranstaltung andere Themen ausklammern will, denken aber nicht, dass das im Widerspruch zu unserer Demonstration steht. Die Initiative trauert um ihre Angehörigen und kämpft für Gerechtigkeit durch den Staat. Sie leistet gute und wichtige Aufklärungsarbeit über das, was in Hanau passiert ist. Wir wollen eben einen Schritt über das bloße Gedenken hinaus gehen, weil wir nicht glauben, dass von diesem Staat Gerechtigkeit ausgehen kann. Hanau war nicht der erste Anschlag und wird nicht der letzte sein. Das wollen wir politisieren, darauf wollen wir hinweisen. Deswegen machen wir den 19.2. nicht nur zum Gedenken an die neun Ermordeten von Hanau, sondern zusätzlich zu einem antirassistischen Kampftag.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.