Geflüchtete in Brüssel: Der Staat kümmert sich nicht

Geflüchtete müssen in Belgien auf der Straße leben. Längst kämpfen Anwält*innen landesweit für Unterkünfte und Verpflegung

  • Niklas Golitschek und Lena Reiner, Brüssel
  • Lesedauer: 7 Min.

Von der Decke hängt eine Überwachungskamera, ein kleines Kabel lugt aus ihr heraus; sie ist nicht angeschlossen. Auch die Deckenlampe fehlt. Nur eine kleine Stehlampe und etwas trübes Licht von draußen erhellen den Raum, in dem Leticia an einem riesigen Esstisch Platz genommen hat. »Wir sind hier in einem Hotel, das wir besetzt haben. Denn es gibt Platz, aber wir dürfen offiziell nirgends leben«, erklärt sie. Überall in der Stadt stünden Gebäude leer. Sie hätten hier Zuflucht gesucht, weil sie als Frauen auf der Straße sexuellen Übergriffen und Gewalt ausgesetzt seien.

Rund dreißig Frauen und sechs Kinder wohnen hier zusammen, sie sind ein Kollektiv von Sans-papiers-Frauen. Im Französischen steht »sans-papiers« (ohne Papiere) für Migrant*innen, die keinen Aufenthaltsstatus haben und sich auch in keinem Asylverfahren befinden. Leticia ist mit einem Visum zum Studieren aus dem Kongo nach Belgien gekommen. Ihre Muttersprache ist derselbe Französischdialekt, der auch hier gesprochen wird. Sie habe an die Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in Europa geglaubt, doch sich geirrt, sagt sie. »Da, wo ich herkomme, gab es Gewalt, die war physisch und psychisch. Das Leben war nicht sicher. Aber auch hier gibt es Gewalt, die ist nur viel weniger sichtbar. Das System übt Gewalt aus.«

Menschen wie Leticia, deren Aufenthaltserlaubnis irgendwann ablaufe oder die im Asylverfahren abgelehnt würden, stünden vor dem Nichts. »Wenn du hier keine Papiere hast, dann bist du kein Mensch«, sagt sie. Das bedeutet kein Recht auf Bildung, Arbeit, Unterkunft, medizinische Versorgung. Dabei seien sie weder kriminell noch illegal: »Es sind nicht die Menschen ohne Papiere, die kriminell sind. Es ist die Politik, die kriminell zu den Papierlosen ist. Es ist die Politik, die Papierlose kriminalisiert.« Als sie ihre Stimme erhebt, rutscht der kleine Junge, der bisher im Hintergrund still am Tisch gesessen hat, etwas näher, »Mama«, sagt er, »Mama«, als müsse er ihren Wutausbruch unterbinden. Sie lächelt ihn an und spricht dann weiter über die Ungerechtigkeit, die ihr widerfährt.

Tatsächlich bietet der belgische Staat Menschen, die erst einmal in einen solchen aufenthaltsrechtslosen Status geraten sind, keine Möglichkeit, sich wieder zu legalisieren. In Frankreich etwa kann man sich einen Aufenthaltsstatus erarbeiten; ähnlich wie in Deutschland. Zudem erhalten in Deutschland auch Menschen ohne Aufenthaltstitel Unterkunft und Grundversorgung. Dabei möchte die Mehrheit der belgischen Bevölkerung, dass die Politik Wege dafür schafft – das zeigte eine repräsentative Umfrage des Nachrichtenmagazins »Le Vif« im Jahr 2022. »54 Prozent waren dafür«, erinnert sich Leticia. Ob sie auch direkte Unterstützung von Politiker*innen bekämen? Sie verdreht die Augen: »Es gab schon welche, die gesagt haben, dass sie uns unterstützen, aber die haben das nur für den Wahlkampf benutzt und uns dann wieder vergessen.« Wieso sie noch hier ist, obwohl die Lage so schlimm ist? »Wie soll ich denn weggehen?«, fragt sie. »Zum Reisen brauche ich doch auch Papiere. Sonst werde ich wieder zurückgeschickt.«

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Leticia lebt seit einigen Jahren als »Papierlose« in Brüssel und ist derzeit Sprecherin eines Fauenkollektivs.
Leticia lebt seit einigen Jahren als »Papierlose« in Brüssel und ist derzeit Sprecherin eines Fauenkollektivs.

Belgien sei für sie zum Gefängnis unter freiem Himmel geworden. »Abgeschoben werden wir auch nicht, obwohl die Polizei ganz genau weiß, wo wir sind«, sagt sie und präsentiert direkt ihre Erklärung dafür: »Wir bringen dem Staat Geld. Man kann uns leicht ausnutzen.« Das habe sich während der Corona-Pandemie gezeigt. »Frauen aus unserer Gruppe wurden gebeten, im Krankenhaus zu arbeiten«, nennt sie ein Beispiel. Auch an den Bauarbeiten bei der benachbarten Metrostation seien Papierlose beteiligt gewesen. »Man arbeitet 14 Stunden am Tag, bekommt vielleicht zwei Euro pro Stunde. Das ist Sklaverei.« Überhaupt sei Rassismus ein riesiges Problem vor Ort. »Jeder Mensch ist wertvoll, egal, ob er reich oder arm ist, er Papiere oder keine Papiere hat«, betont sie.

Doch nicht nur Menschen ohne Papiere haben in Brüssel ein Unterkunftsproblem. An einer frequentierten Straße liegt das Ausländeramt, in dessen Nähe Dutzende Menschen kampieren. Die belgische Regierung bietet nicht ausreichend Schlafplätze für die Asylsuchenden.

Unter freiem Himmel harrt deshalb auch Mohammad aus. Der Afghane folgte 2022 dem Versprechen der belgischen Regierung, unter anderem afghanischen Soldaten nach der Machtübernahme der Taliban Schutz zu gewähren. Wie seine Freunde hat er zahlreiche Belege für seine Arbeit in der Nationalen Sicherheitsdirektion: Fotos von sich in Uniform mit Waffe, von Arbeitsverträgen und Auszeichnungen. Jetzt schläft er auf einer Pappe in einen Schlafsack gehüllt.

So hat sich Mohammad seinen Neustart in Europa nicht vorgestellt. »Könnt ihr mir einen Schlafplatz besorgen?«, fragt er immer wieder. Aber nie bekommt er einen, weil alle Unterkünfte belegt sind. So läuft das seit Juni 2023, als ihn die belgischen Behörden als Asylsuchenden registrierten. Das belegen die Dokumente, die er stets bei sich trägt.

In Bulgarien wurden Mohammad und seine Freunde nach eigenen Angaben von Polizisten misshandelt und beraubt. Dass belgische Behörden ihn dorthin zurückschicken wollen würden, hätte er nie geahnt.

Die Dublin-Verordnung sieht vor, dass Asylsuchende einen Anspruch auf ein Verfahren haben, wenn sie nicht innerhalb von sechs Monaten nach der Entscheidung in das Ankunftsland zurückgebracht werden. Diese Frist wird verlängert, wenn sie untertauchen. Mangels Unterkunft haben Mohammad und seine Freunde in Brüssel keine Adresse – so hat der belgische Staat sie als »untergetaucht« gebrandmarkt und ihre Wartezeit verdreifacht.

Das belgische Staatssekretariat für Asyl und Migration behauptet auf Anfrage, dass keine anerkannten Flüchtlinge obdachlos seien und verweist auf die Zuständigkeit für andere Personengruppen an andere Stellen. Gleichzeitig räumt eine Sprecherin ein, dass für Asylsuchende nicht ausreichend Plätze vorhanden seien. Das Ministerium finanziere dafür 2500 Plätze in Obdachlosenunterkünften. Doch auch die reichen nicht aus, weitere Unterkünfte seien nur schwierig zu organisieren.

Ohne Alternative verrichten die Betroffenen auch ihre Notdurft unter freiem Himmel – der Wind trägt den Geruch von Fäkalien immer wieder in Richtung Straße. Verpflegung und medizinische Versorgung kommt von Freiwilligen, die ihre Dienste vor Ort anbieten oder humanitäre Zentren im Stadtgebiet aufgebaut haben.

Neben Mohammad schlafen zwei weitere Männer aus Togo ebenfalls auf Kartons. Einer von ihnen spricht Englisch. »Ich bin erst seit zehn Tagen hier«, sagt er, »ich habe einen Asylantrag gestellt und wurde auf eine Warteliste für eine Unterkunft gesetzt.« Wie lange er im Freien ausharren muss, wisse er nicht, sagt er enttäuscht: »Ich dachte, man erlaubt mir, hier zu arbeiten und ein normales Leben zu führen.«

Anwalt Jean-François Gerard spricht von 2500 Menschen, die ein gerichtlich bestätigtes Anrecht auf eine Unterbringung hätten und dennoch obdachlos seien. »Das ist keine Flüchtlingskrise, sondern eine Aufnahmekrise.« Der Jurist leitet den Legal Help-Desk, der kostenlos eine Rechtsberatung für Asylbewerber*innen und Geflüchtete anbietet. Der Staat gewährt zwar ebenfalls eine Rechtshilfe für mittellose Menschen. Doch diese Anlaufstelle sei genauso überfordert wie der Staat mit der Unterbringung der Geflüchteten, sagt Gerard. Beim Legal Help-Desk arbeiten Unternehmensanwält*innen zusammen mit denen, die Gerard als aktivistisch bezeichnet. Im Alltag hätten diese Gruppen selten Berührungspunkte, beäugten sich vielmehr argwöhnisch.

Gerard ist seit 25 Jahren Anwalt für eine international tätige Wirtschaftskanzlei. Er erinnert sich, wie schockiert er war, als er erfuhr, wie viele Geflüchtete obdachlos auf der Straße leben, obwohl ihnen eine Unterkunft zusteht. Entsetzt war er über den Staat, der sich nicht an die eigenen Gesetze hält. »Was erlaubt er sich dann als Nächstes?«, fragt er. Dieser Entwicklung müsse sofort Einhalt geboten werden.

Die Anwältin Marie Doutrepont ist eine von denen, die seit Jahren um Schlafplätze und eine Versorgung für ihre Klient*innen kämpft. Inzwischen geht es ums Äußerste: Nichtregierungsorganisationen wollen knapp drei Millionen Euro aus dem Staatshaushalt beschlagnahmen lassen, um eine Unterbringung zu finanzieren. Mehr als 9000 Gerichtsurteile, die den Kläger*innen Unterbringung und Versorgung zusprechen, hat Staatsministerin Nicole de Moor in den vergangenen Monaten ignoriert– ebenso wie die darauf verhängten Strafzahlungen.

Daher wurde kürzlich unter anderem eine Kaffeemaschine und eine Gefriertruhe ihres Ressorts im Auftrag Doutreponts und anderer Anwält*innen beschlagnahmt. Die Pfändung des Betrags direkt vom Staatskonto sowie weiterer Gegenstände wird derzeit geprüft.

Diese Pfändungen seien der letztmögliche Schritt in einer Demokratie. Ein solches Vorgehen kenne sie bisher nur aus privatrechtlichen Fällen. Warum der Staat diese Strafzahlungen nicht begleicht? Die unter anderem auf der Online-Plattform X veröffentlichte Antwort aus dem Staatssekretariat liest sich lapidar: »Die Zahlung solcher Bußgeldbeträge wird uns nicht dabei helfen, mehr Schutzplätze zu organisieren, und es wird sicherlich nicht das Problem lösen, dass es in den EU-Mitgliedstaaten keine gerechte Verteilung der Asylbewerber gibt.« Doutrepont kommentiert die Reaktion: »Für die Lösung ist ja auch die Politik verantwortlich.«

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