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»Vogter«: Das Gefängnis als Nicht-Ort
»Vogter« von Gustav Möller spielt im Hochsicherheitstrakt
Was ist das Schlimmste am Gefängnis? Natürlich eingesperrt zu sein auf engstem Raum. Immer nur besitzen andere die Schlüssel, man selber ist das Objekt des Strafvollzugs. Überall Gitter und schwere Türen – der Zugang zur Welt ist verriegelt. Dostojewski, der einst aus politischen Gründen (er gehörte einem Kreis von Sozialreformern an) erst zum Tode verurteilt und dann zu Gefängnis und Verbannung begnadigt worden war, notiert rückblickend in seinen »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus«, das Schlimmste am Gefängnis sei für ihn gewesen, niemals allein sein zu können.
Gefängnisse treiben krisenhaftes Sozialverhalten in die Katastrophe: entweder nie allein sein können oder das gegenteilige Extrem, die Einzelhaft ohne Kontakt zu anderen. Beides zerstört die Menschen.
Das Gefängnis bleibt bis heute ein archaischer Ort, eine geschlossene Welt in der Welt mit eigenen Gesetzen. Es ist also nicht nur ein Ort, sondern auch ein Nicht-Ort, ein klaustrophobischer Zustand. Davon handelt »Vogter«, der Spielfilm des dänischen Regisseurs Gustav Möller. Vogter heißt übersetzt so viel wie Aufseher. Das ist jemand, der im Gefängnis die Rolle der kontrollierenden Außenwelt übernimmt. Er selbst betritt das Gefängnis nur auf Zeit und verlässt es dann wieder. Ein staatlicher Angestellter zur Aufrechterhaltung der repressiven Gefängnisordnung.
Gustav Möller macht kein Geheimnis daraus, dass ihn das Gefängnis als Form der Extreme immer schon fasziniert hat. Wie begegnet man der geballten kriminellen Energie an diesem Ort? Aber ein Mörder ist niemand, der ständig mordet, sondern meist nur einmal dieses Tabu verletzt hat. Bei meiner Arbeit für das Gefängnistheater »aufbruch« flüsterte mir mitten bei einer Gesangsübung einmal ein stiller, schon etwas älterer Mann zu: »Eigentlich bin ich der friedlichste Mensch von der Welt« (er hatte aus verletzter »Ehre« seine Frau und deren Schwester erschossen). Doch er wirkte tatsächlich friedlich und sehr traurig, sodass ich ihn, der erst am Beginn einer lebenslangen Freiheitsstrafe stand, am liebsten getröstet hätte. Falsches Mitleid mit dem Täter, statt mit den Opfern? Im Gefühlsturbo des Gefängnisses verändern sich Wahrnehmungen.
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Das erfährt auch Eva Hansen (Sidse Babett Knudsen), die in Kopenhagen als Gefängnisbeamtin arbeitet. Sie scheint untypisch in diesem Beruf, manche halten sie für eine Idealistin, die an Besserung glaubt, wo andere dies nicht mehr tun. In ihrem Block kennt man sie als jemand, der immer aufmerksam und freundlich mit den Insassen umgeht. Aber dort sitzen auch nur leichtere Fälle, die mehr an Draußen als an Drinnen denken.
Und doch hat man das Gefühl, das sie tief in sich etwas weggesperrt mit sich herumträgt. Eines Tages bemerkt sie unter den Neuankömmlingen einen jungen Mann, dessen Gegenwart sie tief erschüttert. Es verbindet sie ein schreckliches Geheimnis. In Eva, der bis eben noch so freundlichen Beamtin, erwacht ein auf Vernichtung zielender Racheinstinkt.
Eva lässt sich in den Hochsicherheitstrakt versetzten, dorthin kommt Mikkel (Sebastian Bull), der als unberechenbarer Gewalttäter gilt. Es beginnt ein manipulatives Spiel auf Leben und Tod zwischen ihnen. Nach und nach gibt »Vogter« das Geheimnis zwischen ihnen preis. Der Film blickt nun mit genauem Blick auf das, was in dieser Abteilung des Gefängnisses passiert, wo die Beamten zuerst auf Eigensicherung bedacht sind. Die Gefangenen hier werden wie gefährliche Tiere behandelt – und so verhalten sie sich auch. Wie der heutige Strafvollzug zum Spiegelbild der Gesellschaft wird, darüber kann man in Michel Foucaults »Überwachen und Strafen« nachlesen. Was als »Missetat« im Mittelalter begann, wurde im bürgerlichen Zeitalter zum »Verbrechen«, das durch den Bruch von Gesetzen definiert ist.
Wie Regisseur Möller hier den dauerhaft emotionalen Ausnahmezustand der Gefangenen und ihrer Bewacher im Hochsicherheitstrakt (dem Gefängnis innerhalb des Gefängnisses) in Szene setzt, das schockiert gerade in seiner Detailgenauigkeit. Manchmal, so sehen wir hier, ist Menschen wirklich nicht zu helfen – den Opfern nicht und den Tätern auch nicht. Eine Erkenntnis, die schwer zu ertragen ist. Aber sie gehört zum Gefängnis als zugleich hochtechnisiertem wie mythischem Ort, der bei allen Beteiligten Beklemmungen auslöst. Bei den einen nur auf Zeit, bei den anderen für immer und ohne jeden Ausweg.
»Vogter«, Dänemark 2024. Regie und Buch: Gustav Möller. Mit Sidse Babett Knudsen, Sebastian Bull, Dar Salim. 100 Min. Termin: 24. 2., 19 Uhr, Verti Music Hall
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