Berlinale: Filmemacher sagen, was der Rest der Welt sagt

Auf der Berlinale riefen zwei Filmemacher zu Gleichheit und Frieden auf, doch ihre Reden wurden zum »Skandal«

Yuval Abraham und Basel Adra v.l.n.r. auf der Berlinale 2024.
Yuval Abraham und Basel Adra v.l.n.r. auf der Berlinale 2024.

Die Berlinale ist am Samstagabend mit einer Gala zu Ende gegangen, aber wenn man die deutsche Presse liest, war es eigentlich ein »Skandal«. Die Reden waren »beschämend«, »erschütternd« und »erschreckend«, voller »Israel-Hass« und »Antisemitismus«. Was war geschehen?

Yuval Abraham und Basel Adra, ein Israeli und ein Palästinenser, erhielten einen Preis für ihren Dokumentarfilm »No Other Land«. Abraham sprach 36 Sekunden lang: »In zwei Tagen werden wir in ein Land zurückkehren, in dem wir nicht gleich sind. Ich lebe unter einem zivilen Recht, Basel unter einem militärischen. Wir wohnen 30 Minuten voneinander entfernt, aber ich habe Stimmrecht und Basel hat kein Stimmrecht. Ich darf mich in dem Land frei bewegen, Basel ist wie Millionen Palästinenser eingeschlossen in der West-Bank. Diese Situation der Apartheid zwischen uns, diese Ungleichheit muss ein Ende haben.«

Sein Co-Produzent Adra brauchte nur 21 Sekunden: »Ich bin hier, um den Preis entgegenzunehmen, aber es fällt mir sehr schwer zu feiern, wenn Zehntausende meiner Leute von Israel in Gaza abgeschlachtet und massakriert werden. Auch Masafer Yatta, meine Gemeinde, wird von israelischen Bulldozern niedergewalzt. Ich bitte Deutschland, da ich hier in Berlin bin, den Aufrufen der UN zu folgen und keine Waffen mehr nach Israel zu schicken.«

Das sind nüchterne Aussagen zu freiheitlich-demokratischen Prinzipien. Wer würde es wagen zu widersprechen? Soll die systematische Ungleichbehandlung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit (im Völkerrecht als »Apartheid« bezeichnet) weitergehen? Soll Deutschland weiterhin UN-Resolutionen ignorieren?

Ein Israeli und ein Palästinenser haben sich gemeinsam gegen die militaristische Logik sowohl des Likud als auch der Hamas gestellt. Es ist eine inspirierende Botschaft – und doch habe ich keine einzige deutsche Publikation gefunden, die sie vollständig zitiert hat.

Anstatt sich auf eine Debatte einzulassen, fordern deutsche Politiker*innen eine Zensur. Olaf Scholz und seine oberste Kulturbürokratin Claudia Roth nannten die Reden jeweils »schockierend einseitig«. Bundesjustizminister Marco Buschmann forderte »strafrechtliche Konsequenzen« und selbst Anne Helm von der Linkspartei erklärte, dass »eine Grenze überschritten wurde«.

Red Flag

»Red Flag« ist eine Kolumne über Berliner Politik von Nathaniel Flakin. Sie erschien von 2020 bis 2023 im Magazin »Exberliner« und fand ein neues Zuhause bei der Zeitung »nd« – als deren erster Inhalt, der auch auf Englisch zu finden ist. Nathaniel ist auch Autor des antikapitalistischen Reiseführers Revolutionary Berlin.

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Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner sprach von einer »inakzeptablen Relativierung« und erklärte: »In Berlin ist kein Platz für Antisemitismus, auch nicht in der Kunstszene.« Es ist derselbe Wegner, der noch vor zwei Wochen zu verstehen gab, die AfD werde auch bei künftigen Ausgaben der Berlinale eingeladen werden. Die Politiker der teils gesichert rechtsextremen Partei waren nach Protesten ausgeladen worden, doch der Regierende Bürgermeister fordert »Gleichbehandlung«. Mit anderen Worten: Für Wegner sind rechte Politiker*innen in Ordnung, aber kritische Israelis sind nicht willkommen.

Im Laufe der Jahre hat die Berlinale einige spektakuläre israelische Dokumentarfilme gezeigt. Gute Filme müssen sich kritisch mit der Realität auseinandersetzen, die sie abzubilden versuchen. Wenn jede Kritik an Israel als antisemitisch abgelehnt wird, wird sich niemand mehr trauen, israelische Regisseur*innen einzuladen, aus Angst, sie könnten etwas Negatives über ihre Regierung sagen. Was würde auf der Berlinale übrig bleiben? Tatort-Folgen und Netanjahu-Wahlwerbung?

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Deutsche Politiker*innen behaupten, dies würde der Berlinale schaden. Das Gegenteil ist der Fall: Ihre Forderungen nach Zensur sind eine Bedrohung für die Berliner Kunstszene. Ist ihnen überhaupt bewusst, wie weit sie außerhalb des globalen Mainstreams stehen? Mit ihrer Forderung nach einem Waffenstillstand haben die Preisträger am Samstag das gesagt, was die ganze Welt außer Deutschland sagt – sogar Joe Biden hat darüber gemurmelt.

Einmal mehr zeigt sich, dass die virulente Solidarität mit Israel auf Kosten des jüdischen Lebens in Deutschland geht. Wie nennen wir diesen unbändigen Willen, Juden und Jüdinnen zum Schweigen zu bringen, die sich nicht an die deutsche Staatsräson halten? Letzte Woche sagte der israelische Regisseur Udi Aloni: »Es scheint, als gäbe es in Deutschland eine neue Form des Antisemitismus, die niemand Antisemitismus nennt: die Zensur fortschrittlicher intellektueller jüdischer Stimmen.« Er gab zu, dass er Angst habe, Walter Benjamin oder Franz Rosenzweig in diesem Land zu zitieren, »weil ich vielleicht gecancelt werde«.

Es scheint, dass deutsche Politiker*innen nicht wollen, dass wir diese Reden hören. Sie können die Realität nicht verteidigen – also versuchen sie, Diskussionen darüber zu vermeiden. Wir müssen Israelis und Palästinenser hören, wenn sie gemeinsam für Gleichheit und Frieden eintreten.

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