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Argentinien unter Milei: »Menschenrechte als Markthindernis«
Die Anwältin Paula Litvachky über den radikalen Staatsabbau in Argentinien unter dem rechten Präsidenten
In Argentinien ist seit dem 10. Dezember 2023, dem Tag der Menschenrechte, der ultrarechte Präsident Javier Milei im Amt. Am 1. März verkündete er bei seiner Rede zur Lage der Nation erneut, er sei entschlossen, seine Reformen »mit oder ohne politische Unterstützung« voranzutreiben. Was hat sich seit seinem Amtsantritt grundlegend verändert?
Es hat sich in sehr kurzer Zeit sehr viel verändert. Mit dem Notwendigkeits- und Eildekret (DNU) und dem Projekt des »Omnibus-Gesetzes« (664 Maßnahmen als Mix wie Fahrgäste in einem Bus, d. Red.) wurden zwei sehr bedeutsame Schritte zum Staatsumbau in Angriff genommen. Darin zeigt sich die Weltanschauung von Milei. Diese Regierung ist die erste, die sagt, der Staat kann die Probleme nicht im Ansatz lösen, alles muss der Privatwirtschaft und dem Markt überlassen werden. Die Regierung Milei steht für ein offenes Misstrauen und einen Diskurs gegen den Staat.
Und in der Wirtschaftspolitik folgt sie dem sogenannten Washingtoner Konsensus des IWF von Privatisierung, Liberalisierung und Defizit-Reduzierung?
Paula Litvachky ist Direktorin des Menschenrechtsinstituts Cels (Centro de Estudios Legales y Sociales) in Buenos Aires, das 1979 von Angehörigen von Opfern der Militärdiktatur gegründet wurde.
Ja, das ist ein sehr brutaler wirtschaftlicher Anpassungsvorschlag, den die Regierung auf den Tisch gelegt hat. Dahinter steht die Idee, dass die Makroökonomie repariert werden muss, die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen generalüberholt werden müssen. Dafür soll das Defizit des Staatshaushalts abrupt auf null gesenkt werden. Im Januar erreichte Milei in der Tat den ersten Haushaltsüberschuss seit zwölf Jahren durch massiv gekürzte Renten, Pensionen, öffentliche Gehälter und eingesparte Subventionen wie beim Strom. Die Inflation, die bereits 2023 mit 211 Prozent sehr hoch war, hat sich durch die Deregulierung weiter beschleunigt und liegt jetzt bei über 250 Prozent im Vorjahresvergleich.
Wie wirkt sich das aus?
Wir erleben die Vertiefung einer bereits großen Wirtschaftskrise und einen sehr starken Rückgang der Reallöhne und damit einen weiteren Einbruch der Kaufkraft. Der Mindestlohn hat in den vergangenen acht Jahren 45 Prozent seiner Kaufkraft eingebüßt, allein 19 Prozent im vergangenen Jahr laut den offiziellen Statistiken. Jetzt steigen zusätzlich noch die Preise im öffentlichen Nahverkehr, bei Strom, Gas und Wasser, weil die Subventionen heruntergefahren werden. Sozialpolitik ist dagegen Fehlanzeige mit der Ausnahme der Erhöhung des Kindergeldes. Und die Lebensmittelkarten für Bedürftige halten mit den steigenden Preisen nicht Schritt. Unterm Strich erleben wir eine Verarmung der Bevölkerung, der Lebensstandard sinkt immer schneller.
Auch der Lebensstandard der Mittelschicht?
Ja. Die Mittelschicht hat unter den stark gestiegenen Vorauszahlungen an die privaten Krankenkassen zu leiden. Die privaten medizinischen Unternehmen haben ihre Gebühren um mehr als 100 Prozent erhöht, nachdem die neue Regierung den Sektor dereguliert hatte. Sowohl die Mittelschicht als auch die unteren Schichten sehen sich einer starken Reduzierung ihrer Einkommen ausgesetzt.
Milei hat auch das Arbeitsrecht im Visier. Was genau plant er?
Die Regierung versucht, das Arbeitsrecht per Dekret zu reformieren. Das liegt jetzt in den Händen der Gerichte. Ein Gericht hat die Reform des Arbeitsrechts fürs Erste ausgesetzt. Damit sollten Entlassungen erleichtert, Abfindungen reduziert und Klagen gegen Entlassung erschwert werden. Insgesamt strebt Milei einen Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung an. Der Staat zieht sich aus dem Schutz der Arbeitnehmer zurück, der Staat zieht sich aus dem Schutz der Verbraucher zurück, ebenso aus seiner Verantwortung für das Angebot öffentlicher Dienstleistungen. Zum Beispiel steigen derzeit die Preise beim öffentlichen Transport wegen sinkender Subventionen stark an. Das alles führt zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen. Wenn die Inflation nicht sinkt und es keine ausgleichende Politik gibt, die die Einkommensverluste auffängt, wird sich die Krise weiter verschärfen.
Eine neue Regierung steht meist für einen Politikwechsel, das hört sich aber nach wesentlich mehr an – nach einem Systemwechsel?
Es handelt sich in der Tat um den Versuch eines Systemwechsels, das sagt der Präsident selbst, das sagen seine Berater. Es ist eben nicht nur ein Wirtschaftsplan mit neoliberalen Merkmalen, wie wir ihn zum Beispiel zu anderen Zeiten hatten, in den 90er Jahren unter Carlos Menem, aber auch unter Mauricio Macri von 2015 bis 2019. Milei strebt einen grundlegenden Wandel an. Einige Analysten sprechen sogar von einer revolutionären Regierung, die das Bestehende umstürzen will, weil sie eine andere Form des Staats propagiert, eine andere Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft, ein anderes Funktionieren des Marktes und der Gesetze. Es geht in der Tat um einen Systemwechsel. Noch ist er nicht vollzogen.
Lässt sich bereits eine signifikante Enttäuschung der Wähler*innen von Milei über dessen Kurs feststellen?
Nein, noch nicht. Laut den Umfragen ist er noch annähernd auf dem Zustimmungsniveau wie zu Beginn seiner Amtszeit. Allerdings beginnen die Werte zu bröckeln. Und er regiert erst seit gut zwei Monaten. Wie sich seine Popularität weiterentwickelt, wird stark davon abhängen, wie sich die wirtschaftliche Lage gestaltet.
Wie wirken sich die Entscheidungen der Regierung auf die Menschenrechte aus?
Die Regierung setzt auch hier auf Konfrontation. Sie will das Verhältnis des argentinischen Staats zu den internationalen Menschenrechtsnormen und den historischen Diskussionen über die Menschenrechte in Argentinien neu definieren, wie der Präsident sagte. Nach seinem Verständnis sind Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit ein Hindernis für den Markt. Milei beschreibt die soziale Gerechtigkeit in Argentinien als einen Systemfehler. Seiner Meiunng nach heißt das, von jemandem etwas zu stehlen, um es einem anderen zu geben. Sowohl im Dekret DNU als auch im Omnibus-Gesetz, das er durchsetzen will, stellte er den Umweltschutz und die Rechte der Arbeitnehmer, der Verbraucher und der Mieter infrage. Er hob das Landgesetz, das ausländisches Eigentum an Grund und Boden begrenzt, auf, was die Lage für indigene und bäuerliche Gemeinschaften verschlimmert. Sie können ihr Recht auf ihr Land nicht mehr durchsetzen. Der Landkauf für Ausländer ist komplett freigegeben worden. Es geht nicht nur darum, dass der Staat bei der Schutzgesetzgebung eingreift, er stellt auch den normativen Rahmen, den diese Rechte abstecken, in Frage. Was die Regierung in diesem Fall vorschlägt, ist die Reform oder Abschaffung von Gesetzen, die Rechte schützen. Und genau hier liegt der Paradigmenwechsel.
Wie sieht es mit dem Widerstand aus? Es gab einen Generalstreik am 24. Januar – bereits 45 Tage nach Regierungsübernahme – und einige Demonstrationen davor und danach. Wie war die Beteiligung?
Es war ein massiver Generalstreik. Und der Streik war bedeutend, weil er von Gewerkschaften angeführt wurde, die eine große Rückendeckung haben. Sie fordern von der Regierung eine Diskussion über Arbeitnehmerrechte und über Einkommen und Lebensbedingungen ein. Die Gewerkschaften standen nicht allein, die sozialen Bewegungen hatten sich ihnen angeschlossen, die feministische Bewegung, Menschenrechtsorganisationen und Kulturschaffende. Auch die Kultur wird von der Regierung angegriffen und mit Mittelentzug bedroht. Was sich jetzt abzeichnet, sind Widerstand und soziale Konflikte. Die Frage ist: Wohin wird das führen? Ob sich dies auf die bisherige Wählerbasis der Regierung auswirken wird, ist noch nicht klar.
Welche Rolle spielen die Europäische Union und Deutschland bei der Akzeptanz dieser ultrarechten Regierung, mit der ja das Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten unter Dach und Fach gebracht werden soll?
Hier gibt es ein Dilemma. Klar ist, dass die Regierung Milei für Freihandel steht, für den Privatsektor. Das spielt der Europäischen Union in die Hände und auch den USA. Milei propagiert Freihandel und die Reduzierung des Haushaltsdefizits um jeden Preis. Die Kosten dafür sind hoch. Sowohl die wirtschaftliche als auch die soziale Krise werden durch seinen Kurs weiter vertieft. Defizit-Reduzierung in einer Krise wirkt prozyklisch und verstärkt damit die Krise.
Neben der neoliberalen wirtschaftlichen Ausrichtung weist diese Regierung auch noch Komponenten der extremen Rechten auf. Es geht nicht nur darum, für die Privatwirtschaft ein vorteilhaftes Umfeld zu schaffen. Für diese Regierung spielt es keine Rolle, ob dafür Rechte und die Demokratie unter die Räder kommen. Das ist ihr egal. Ihre politische Agenda ist vollkommen losgelöst von der Rücksichtnahme auf demokratische und soziale Errungenschaften. Wenn die EU mit so einer Regierung widerspruchslos verhandelt, trägt sie dazu bei, dass deren Wirken als normal gilt.
Dabei ist Milei doch ein Kritiker der EU?
Ja, beim Weltwirtschaftsforum in Davos hat Milei den Westen und die EU scharf kritisiert, dass der freie Markt nicht mehr mit Überzeugung verteidigt würde. So wäre im Westen dem Sozialismus und damit der Armut Tür und Tor geöffnet. Diese Kritik scheint die Neigung der EU-Länder allerdings nicht beeinträchtigt zu haben, mit Argentinien Geschäfte zu machen.
Deutschland und die EU setzen eher auf einen Ausverkauf bei den argentinischen Ressourcen und räumen wieder einmal der Wirtschaft Vorrang vor den Menschenrechten ein.
Im Moment sieht es in der Tat so aus.
Steht Argentiniens Demokratie auf dem Spiel?
Auf alle Fälle glaubt die Regierung nicht an die Demokratie. Milei hat im Wahlkampf ein Bekenntnis zur Demokratie verweigert. Bezeichnend ist auch, wie auf die verschiedenen Proteste geblickt wird, die seit Dezember bis jetzt stattgefunden haben. Alle endeten in Repression, mit Verhafteten und Verletzten. Und die Art und Weise, wie die Regierung über Dissidenz spricht, wie sie sich nicht inhaltlich mit denen auseinanderzusetzen will, die auf die Straße gehen, das stellt auch das Recht auf Protest infrage. Milei greift das System und die Demokratie an. Beides steht auf dem Spiel. Der Ausgang ist ungewiss.
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