Özlem Demirel (Linke): »Israels Vorgehen ist nicht legitim«

Vor den EU-Wahlen: Die Europa-Abgeordnete Özlem Alev Demirel (Linke) spricht über die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen

  • Interview: Pauline Jäckels und Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 7 Min.
Dieses vom britischen Verteidigungsministerium zur Verfügung gestellte Foto zeigt ein Kampfflugzeug vom Typ F-35B Lightning auf dem Flugzeugträger der Royal Navy «HMS Prince of Wales» unter Polarlichtern vor der Küste Norwegens. Der Flieger nimmt an der Nato-Übung Steadfast Defender 24 teil.
Dieses vom britischen Verteidigungsministerium zur Verfügung gestellte Foto zeigt ein Kampfflugzeug vom Typ F-35B Lightning auf dem Flugzeugträger der Royal Navy «HMS Prince of Wales» unter Polarlichtern vor der Küste Norwegens. Der Flieger nimmt an der Nato-Übung Steadfast Defender 24 teil.

Vor genau zwei Jahren hat Olaf Scholz die sogenannte Zeitenwende ausgerufen und bezog sich dabei nicht nur auf die deutsche Rüstungs-, sondern auch auf die europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Hat sich diese Wende aus Ihrer Sicht wirklich vollzogen?

Die Zeitenwende steht zunächst einmal für eine Verschiebung des Sag- und Machbaren. In der letzten Debatte des Europaparlaments sagte Manfred Weber, der Fraktionsvorsitzende der konservativen EVP: »Wer den Krieg verhindern will, muss den Krieg vorbereiten.« In diesem Sinne wird der völkerrechtswidrige russische Überfall auf die Ukraine massiv für Aufrüstung missbraucht. Diese Entwicklung ist brandgefährlich. Das Problem ist nicht nur, dass das Geld, das für Rüstung ausgegeben wird, für eine gute soziale Infrastruktur fehlt. Der Machtkampf großer Mächte um die Neuaufteilung der Welt geht auch mit konkreten Kriegsvorbereitungen einher. Wenn wir einen Weltkrieg verhindern wollen, müssen wir eine starke Friedensbewegung gegen Aufrüstung und für die Beendigung von Kriegen aufbauen.

Sie lehnen Waffenlieferungen an die Ukraine grundsätzlich ab. Aber es war Russland, das die Ukraine überfallen hat. Wenn Putin mit seinem Plan erfolgreich ist, würde die Welt ja nicht friedlicher.

Ich kann verstehen, wenn Menschen sich mit dem Angegriffenen solidarisieren wollen. Doch Waffenlieferungen und die Verlängerung dieses Krieges sind kein Akt der Solidarität. Es ist ein Stellungskrieg, für den es keine Lösung auf dem Schlachtfeld gibt. Auch agieren die Nato-Staaten hier nicht selbstlos. Der Nato geht es um eigene geopolitische Interessen, nicht um die Menschen in der Ukraine. Sie wollen den Preis für den imperialen Rivalen Russland in die Höhe treiben. Wenn die Nato-Staaten nicht selbst in den Krieg ziehen wollen – das wäre dann der Beginn des 3. Weltkrieges –, dann gibt es keinen anderen Weg als eine politische Lösung am Verhandlungstisch, und das wissen alle.

Interview

Özlem Alev Demirel sitzt für die Linkspartei im Europaparlament, wo sie innerhalb ihrer Fraktion The Left insbesondere für Außenpolitik zuständig ist. Bei der kommenden EU-Wahl wird sie auf Platz drei der Linke-Liste antreten.

Welche Alternativen hätte es aus Ihrer Sicht zu einer ukrainischen Gegenoffensive gegeben?

Man hätte diesen Krieg von Anfang an verhindern müssen. Zum Kontext dieses Krieges gehören eben auch die Politik der USA und die Nato-Erweiterungen. Zudem hat die Intervention einiger westlicher Staaten dazu geführt, dass die Verhandlungen um einen Waffenstillstand 2022 abgebrochen wurden. Grundsätzlich gilt: Wenn wir nicht wollen, dass Europa ein Kontinent des permanenten Wettrüstens und der kriegerischen Auseinandersetzung wird, müssen wir eine Sicherheitsarchitektur schaffen, die die Interessen aller auf dem Kontinent berücksichtigt.

Es ist sehr umstritten, ob Russland damals wirklich zu einem Waffenstillstand bereit war.

Dawyd Archamija, ein Selenskij-Vertrauter und Unterhändler bei den damaligen Verhandlungen in der Türkei, hat erklärt, dass man mit dem Verzicht auf die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine damals einen Waffenstillstand bekommen hätte. Auf die Frage, warum man das nicht angenommen hat, nannte er mangelndes Vertrauen. Außerdem sei Boris Johnson der Meinung gewesen, man solle lieber kämpfen und Putins Zusagen nicht glauben.  

Wie ernst schätzen Sie die Bedrohung Europas durch Putins imperiale Politik ein?

Es werden zwei Erzählungen verbreitet, die nicht recht zueinander passen. Zum einen heißt es, die Ukraine könne mit mehr Waffen diesen Krieg auf dem Schlachtfeld zu ihren Gunsten entscheiden. Zum anderen heißt es, Russland stehe morgen bei uns an der Haustür. Tatsache ist, dass die Nato-Staaten um ein Vielfaches besser ausgerüstet sind als Russland. Ein Angriff auf die Nato oder EU bleibt unwahrscheinlich. Meiner Ansicht nach handelt es sich um ein Narrativ, um Ängste in der Bevölkerung zu schüren, massiv aufzurüsten und Waffenlieferungen zu legitimieren. Dabei erhöhen die Verlängerung des Krieges und jede neue Waffenlieferung aus Deutschland und/oder der EU die Gefahr, dass es zu einer Ausweitung des Krieges kommt.

Beim Thema Gaza-Krieg ist die Lage in der EU eine andere. Hier tun sich insbesondere seit der Hamas-Attacke am 7. Oktober tiefe Gräben in Europa auf.

Im Parlament sind es die Konservativen, die rechten Parteien plus die deutschen Abgeordneten der Ampel, die sich gegen einen Waffenstillstand aussprechen und Israel bedingungslose Solidarität zusichern. Die progressiveren Parteien sind eher für einen Waffenstillstand und sagen, das Unrecht gegenüber den Palästinensern müsse ein Ende haben. Unter den Mitgliedsstaaten sind es Länder wie Spanien oder Irland, die eine klare Position für Gerechtigkeit auch für Palästinenser und nachhaltigen Frieden eingenommen haben. Ihnen stehen insbesondere Länder wie Deutschland oder, außerhalb der EU, die USA entgegen. Hier meint man, alle als Antisemiten stigmatisieren zu müssen, die sich für einen dauerhaften Waffenstillstand einsetzen – selbst Jüdinnen und Juden, wie die Berlinale-Debatte unlängst gezeigt hat. Natürlich hat Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine besondere Verpflichtung, jüdische Menschen zu schützen. Aber das, was hier gerade geschieht, ist kein Aufstehen gegen Antisemitismus, sondern die Legitimation neuen Unrechts.

Ist die israelische Gaza-Offensive aus ihrer Sicht noch als Selbstverteidigung zu begreifen?

Nein, dieses Massaker hat nichts mit dem Recht auf Selbstverteidigung zu tun. Wenn die komplette Infrastruktur Gazas zerstört wird, wenn Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen gemacht und 30 000 getötet wurden, kann man nicht mehr von Selbstverteidigung sprechen. Der Krieg muss enden. Dafür müssen wir über einen nachhaltigen Friedensprozess sprechen, also auch über das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser. Netanjahu sagt ja gerade, dass es so bald kein souveränes Palästina geben wird. Das würde bedeuten, dass die Gewaltspirale weitergeht. Übrigens wird es auch nur nachhaltige Sicherheit für Israelis geben, wenn es dauerhaft Gerechtigkeit für Palästinenser gibt. Deutschland muss aufhören, sich nur abstrakt zur Zweistaatenlösung zu bekennen, und stattdessen tatsächlich etwas für sie tun.

Mit dem Manöver Steadfast Defender 24, dem umfangreichsten seit Ende des Kalten Kriegs, übt die Nato für einen möglichen Krieg mit Russland: In Nordpolen schaut ein britischer Scharfschütze durch das Zielfernrohr und richtet sein Gewehr aus.
Mit dem Manöver Steadfast Defender 24, dem umfangreichsten seit Ende des Kalten Kriegs, übt die Nato für einen möglichen Krieg mit Russland: In Nordpolen schaut ein britischer Scharfschütze durch das Zielfernrohr und richtet sein Gewehr aus.

Haben Deutschland und die EU überhaupt die Druckmittel, um Netanjahu zu einem Waffenstillstand oder einer Zweistaatenlösung zu bewegen?

Deutschland hat 2023 – insbesondere nach dem 7. Oktober – die Waffenexporte an Israel verzehnfacht. Deutschland ist also mit finanziellen Mitteln und Waffenlieferungen am Krieg indirekt beteiligt. Natürlich verfolgt Israel eine eigenständige Politik. Aber diesen Krieg könnte Netanjahu ohne die Rückendeckung aus Deutschland und vor allem den USA nicht dauerhaft fortführen. Der erste Schritt wäre, die Lieferungen einzustellen und sich vom Veto der USA im UN-Sicherheitsrat gegen einen dauerhaften Waffenstillstand zu distanzieren.

Die europäische Linksfraktion The Left hat sich sehr solidarisch mit den Palästinensern gezeigt. Innerhalb der deutschen Linkspartei ist man sich bei dem Thema nicht einig. Wie gehen sie mit den Konfliktlinien in der eigenen Partei um?

Wenn sich die Linkspartei bei diesem Krieg, der von einer großen Machtasymmetrie und Zerstörungswut geprägt ist, nicht klar für einen Waffenstillstand und ein Ende der Waffenlieferungen einsetzen würde, wäre sie keine progressive oder linke Partei mehr. Ich kenne niemanden mehr in der Linken, der nicht für einen Waffenstillstand ist. Übrigens ist das auch die Beschlusslage der Partei. Kurz nach dem 7. Oktober hatte man zwar auch schon diese Beschlusslage, aber war noch zurückhaltend, diese Position in der Öffentlichkeit offensiv zu vertreten. Ich habe das sehr früh und deutlich getan.

Auf dem Parteitag im November gab es auch jene, die eine bedingungslose Solidarität mit Israel forderten.

Wie gesagt, manche hatten zu Beginn Schwierigkeiten damit, sich zur Beschlusslage der Partei zu bekennen. Möglicherweise haben sich diese Personen auch nicht genug mit der konkreten Lage in Gaza beschäftigt oder sie haben nicht gesehen, was auf uns zukommt. Wer sich mit dem Thema beschäftigt, konnte es schon im November wissen. Nach fünf Monaten Krieg gegen die Zivilbevölkerung kann auf jeden Fall niemand mehr ernsthaft behaupten, das Vorgehen Israels sei angemessen oder legitim.

Was muss aus ihrer Sicht passieren, damit es einen Frieden in Israel und den palästinensischen Gebieten geben kann?

Erstmal einen Waffenstillstand und die Aufarbeitung aller Kriegsverbrechen. Vor allem aber braucht es den Einsatz auch der internationalen Gemeinschaft für ein gleichberechtigtes Palästina. Also der Einsatz dafür, dass auch die Palästinenser frei, selbstbestimmt und in Würde ihre Zukunft gestalten können.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -